Alles muss neu gedacht werden

Europa will der erste klimaneutrale Kontinent der Welt werden. Bis 2050 sollen alle Bereiche der Wirtschaft, der Staat selbst und die Lebensweise der Menschen klimaneutral sein. Deutschland geht noch einen Schritt weiter und will das Ziel bereits fünf Jahre früher erreichen, also 2045. Während die Pläne in der Bundesrepublik bereits verbindlichen Charakter haben, bedürfen die Vorschläge der EU-Kommission noch der Zustimmung aller Mitgliedstaaten und des Europäischen Parlaments.

Eine grundsätzliche Veränderung ist indes nicht mehr zu erwarten. Es geht also nicht mehr um die Frage, ob die Transformation stattfindet, sondern darum, wie sie abläuft. In Europa beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, um die ambitionierten Vorgaben in praktische Politik umzusetzen.

Damit sind große Aufgaben verbunden, aber auch enorme Chancen, denn klimaneutrales Wirtschaften kann der Kern einer zukunftsfesten Wettbewerbsfähigkeit Europas werden. Zudem wird weltweit immer deutlicher: Ohne Klimaschutz erodieren Wohlstand, Stabilität und Freiheit. Europa kann Vorreiter einer Wirtschaft und Gesellschaft sein, die die Realitäten des Erdsystems ernst nimmt. Wenn wir es richtig anfangen, werden sich viele daran orientieren, auch in den USA und China.

Eine klimaneutrale Wirtschaft und Gesellschaft erfordern völlig neue Strukturen, etwa in der Produktion, im Verkehr, in der Energieversorgung, in der Landwirtschaft oder beim Wohnungsbau. Die Versorgung mit Strom aus erneuerbaren Quellen in ganz Europa sowie neue europäische und globale Energiepartnerschaften werden die Grundlage unseres Wirtschaftens bilden. CO₂-Bepreisung auf europäischer Ebene, eine grundlegende Reform von Steuern, Abgaben und Umlagen, der konsequente Aufbau von Infrastrukturen für den Energietransport, die Mobilität sowie im Bereich der Digitalisierung, eine Forschungsstrategie und die Weiterentwicklung der globalen Kooperation beim Klimaschutz müssen die Grundlage für die Transformation in Deutschland und Europa bilden.

Transformation braucht Akzeptanz

Die Innovationskraft der Industrie wird es möglich ­machen, gesellschaftlichen Wohlstand mit nachhaltigem Wirtschaften zu verbinden. Das schafft Perspektiven für die Menschen und damit Akzeptanz für die Transformation. Denn in unserer demokratisch verfassten Gesellschaft ist es zentral, dass die Bürgerinnen und Bürger bereit sind, den Weg in Richtung Klimaneu­tralität im persönlichen Alltag mitzugehen.

In Europa hat die Klimabewegung der jungen Generation die öffentliche Debatte geprägt und so für ambitionierte politische Beschlüsse gesorgt, die nun festschreiben, was die Wissenschaft seit Langem fordert. Der jüngste Bericht des Weltklimarates hat in diesem Sommer noch einmal betont, wie nah der Globus an die Kipppunkte des Erdsystems herangerückt ist. Es drohen irreversible und sich wechselseitig beschleunigende Kettenreaktionen, die menschliches Leben an vielen Orten der Welt unmöglich machen und soziale und politische Verwerfungen auslösen können, die wir bislang nur aus düsteren Hollywoodfilmen kennen.

Nicht zu handeln heißt eben nicht, dass alles so bleibt, wie es ist. Wenn wir in Europa und weltweit die Transformation zur Klimaverträglichkeit weiter verzögern, wird ein gefährlicher Erdsystemwandel die Folge sein. Wir müssen handeln. Und zwar schnell.

Kraftakt und Chance für Europa

Was also ist zu tun in Deutschland, einem der führenden Industrieländer der Welt? Das Land braucht eine völlig neue Agenda, um eine grundlegende Veränderung der Produktions- und Lebensweise innerhalb eines demokratischen Gemeinwesens wirtschaftlich erfolgreich, sozial ausgewogen und rechtzeitig umzusetzen. Was für eine Verantwortung für alle politisch Handelnden in den Parlamenten und Regierungen der Kommunen, der Länder und im Bund! Was für eine Aufgabe für die europäischen Institutionen Rat, Kommission und Parlament! Und was für ein Kraftakt, aber eben auch Chance für die Europäische Union! Europa und vor allem Deutschland müssen nun zeigen, dass sie nicht nur beschließen, sondern auch liefern können. Es bleiben 25 Jahre, eine wahrlich kurze Zeit.

Das Klima hat einen großen potenziellen Verbündeten, der den Wandel weltweit beschleunigt: die Digitalisierung. Sie bildet den Hebel, über den die notwendigen Veränderungen in kurzer Zeit realisiert werden können. Intelligente Netze, vernetzte Unternehmen, smarter Verkehr und maximal effiziente Versorgung – all das ist möglich mit und durch Digitalisierung. Aus guten Gründen sprechen wir von einer »Industrie 4.0«, deren technologische Dynamik den Wandel hin zur Klimaneutralität rasant beschleunigen kann und muss. Denn es ist gerade die Industrie, von der Deutschland lebt und durch deren Transformation wir nun zeigen müssen, dass die Menschen keine Angst vor der Umstellung auf eine klimaneutrale Produktions- und Lebensweise zu haben brauchen.

Wir sind zu Recht stolz auf unsere demokratische Tradition und die Legitimation politischer Entscheidungen durch rechtsstaatliche Garantien und Verfahren. Das klimaneutrale Europa wird nur dann ein Exportschlager für den Rest der Welt, wenn die Bevölkerung alle ­Veränderungen mitträgt, weil wir zeigen können, dass Klimaschutz Schaden von unseren Gesellschaften abwendet, unsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit steigert und zugleich einen Zuwachs an Lebensqualität ermöglicht.

Gemeinsam wird die Transformation gelingen

Sieben Herausgeberinnen und Herausgeber haben sich zusammengetan, um gemeinsam mit 50 CEOs, Wissenschaftlerinnen und Praktikern alle wichtigen Bereiche der Transformation zu beleuchten und die vielen Fortschritte auf dem Weg zu illustrieren. Das Herausgeberteam vertritt die Überzeugung, dass die Transformation von vielfältigen Kräften unserer Gesellschaft vorangetrieben werden muss. Klimaschutz ist wie Demokratie: Wir müssen uns alle gemeinsam dafür einsetzen, dass sie gelingt.

Die Transformation ist bereits in vollem Gange. Die Beiträge dieses Bandes beschreiben, was heute schon geschieht und was in den nächsten Jahren und Jahrzehnten bis zur Klimaneutralität noch geschehen muss und wie Politik, Wissenschaft, Gesellschaft und Verwaltung dabei zusammenwirken müssen.

Das Spektrum der Branchen ist weit gespannt, wenn auch nicht vollständig. Es reicht von der Stahlbranche bis zur Automobilindustrie, vom Messewesen bis zur Ernährungsindustrie, von der Touristik bis hin zur ­öffentlichen Verwaltung. Die Bitte an die Autorinnen und Autoren, gemeinsam mit dem Herausgeberteam Deutschlands neue Agenda zu beschreiben, traf auf ­große Mitwirkungsbereitschaft, für die wir uns an ­dieser Stelle ausdrücklich bedanken.

Alle Beiträge beantworten dieselben Fragen: Was be­deuten die Klimaziele für die Transformation, welche Rolle spielt die Digitalisierung auf diesem Weg, und was braucht es seitens des Staates und anderer Sektoren, um den Weg frei zu machen?

Wo wir stehen und was als Nächstes geschehen muss

Die Autorinnen und Autoren blicken kenntnisreich in die Werkstätten der Transformation und halten die Aufgabe des 21. Jahrhunderts für machbar, wenn das Zusammenspiel aller Bereiche gut organisiert wird. Querschnittsbeiträge skizzieren die Abhängigkeiten und Wirkzusammenhänge verschiedener Sektoren, Branchenbeiträge beschreiben das konkrete Handlungsfeld in einem Sektor. Gemeinsam legen sie eine Roadmap für die Parlamente und Regierungen der nächsten Jahrzehnte vor.

Die Herausgeber machen sich nicht alle Sichtweisen und Forderungen der Autorinnen und Autoren in Gänze zu eigen. Wir wollen den produktiven und kreativen Disput über die besten Lösungen, solange sie ernsthaft dem großen Ziel verpflichtet sind. Vordergründige Veränderungsbehauptungen ohne echte Transformation lehnen wir ab. Denn wir alle sind uns einig in der Überzeugung, dass Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, unsere Bürgergesellschaft, Konsumenten und Familien die große Aufgabe der Transformation in eine klimaneutrale Gesellschaft anpacken und schaffen müssen. Und können.

Wie das gelingt, darum geht es diesem Band. Unser Dank gilt der Unternehmensberatung Roland Berger, die die Umsetzung dieser umfassenden Zusammenschau ermöglicht hat. Außerdem danken wir Anette von Löwenstern (Projektmanagement und Redaktion), Robert Pitterle (Lektorat) und Hannes Schulze (Grafik), ohne deren professionelle Unterstützung dieses zeitlich ambitioniert angelegte Projekt nicht umsetzbar gewesen wäre. Der daraus entstandene und nun vor Ihnen liegende Band ist ausreichend groß und sperrig, um nicht im Regal zu verschwinden, denn da gehört er nicht hin. »Deutschlands Neue Agenda« soll auf dem Tisch ­liegen, um gelesen und umgesetzt zu werden.

Berlin im September 2021

Die Herausgeberinnen und Herausgeber:

Prof. Dr. Veronika Grimm, Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamt­wirtschaftlichen Entwicklung

Dr. Joachim Lang, Hauptgeschäftsführer des ­Bundesverbands der Deutschen Industrie e. V. (BDI)

Prof. Dr. Dirk Messner, Präsident des Umwelt­bundesamtes (UBA)

Dirk Meyer, Abteilungsleiter im Bundesministerium für Umwelt, ­Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU)

Dr. Lutz Meyer, Kommunikationschef des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) sowie Inhaber der Kommuni­kationsberatung Lutz Meyer & Company

Dr. Sigrid Nikutta, Vorstand Güterverkehr der Deutschen Bahn AG und Vorstandsvorsitzende der DB Cargo AG

Stefan Schaible, Global Managing Partner ­Roland Berger