Die 2020er-Jahre sind entscheidend: Klimaschutz muss effizienter werden
Bereits heute führen uns Wetterextreme wie Hitze und Starkregen vor Augen: Nichts tun ist keine Option zur Bekämpfung des Klimawandels – weder in Deutschland noch weltweit. Die vom Menschen verursachten klimarelevanten Emissionen müssen schnell und drastisch gesenkt werden. Klimaschutzszenarien helfen dabei aufzuzeigen, was zu tun ist, um die Erderwärmung auf deutlich unter 2 °C, idealerweise 1,5 °C im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen. Auch wenn Szenarien im Grunde nur Wenn-dann-Aussagen treffen, geben sie Orientierung darüber, mit welchen Schritten wie schnell eine Transformation unserer Wirtschaft und Gesellschaft in ein nachhaltiges, digitales Zeitalter gelingen kann.
In Deutschland werden Klimaschutzszenarien nicht nur von Ministerien und nachgeordneten Behörden, sondern auch von Forschungsinstituten und -netzwerken, Thinktanks sowie von der Wirtschaft selbst erarbeitet. Die Zielsetzungen der Szenarien haben sich jedoch inzwischen verändert: Mit Verabschiedung des Klimaschutzplans 2050 und schließlich dem Bundes-Klimaschutzgesetz gehen die Klimaschutzszenarien nun den Fragen nach, ob Deutschland Treibhausgasneutralität überhaupt erreichen kann – und vor allem wie?
Die Übereinstimmungen in den Szenarien machen deutlich, wo schnell und gleichzeitig gehandelt werden muss.
Das zentrale Ergebnis der Klimaschutzszenarien der vergangenen Jahre ist: Ja, es ist möglich, die Treibhausgasemissionen in weiten Teilen auf praktisch null zu reduzieren – auch »innerhalb der üblichen Investitionszyklen und ohne politisch verordnete Verhaltensänderungen«. Und ja, es ist möglich, darüber hinaus Treibhausgasneutralität, also netto Nullemissionen, zu erreichen. Dafür kommen zusätzlich Kohlenstoffsenken zum Einsatz, um aus der Atmosphäre Kohlendioxid zu entnehmen und so die nicht vermeidbaren klimarelevanten Emissionen auszugleichen.
Klimaschutzszenarien im Vergleich
Der Teufel steckt natürlich im Detail. Vergleiche zeigen, dass sich die Transformationswege der Szenarien durchaus unterscheiden, zum Beispiel bei der Frage, wie schnell die Emissionen bis 2030 oder 2040 gesenkt werden können. Es gibt aber auch viele Gemeinsamkeiten. Daraus lassen sich strategische Handlungsfelder ableiten, in denen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft schon heute für erfolgreiches zukünftiges Wirtschaften aktiv werden können und müssen. Aber auch die Kenntnisse von Unterschieden sind wichtig: Soll der Klimawandel begrenzt werden, brauchen wir gerade zu diesen Themen wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurse sowie Lösungen.
Aus der Vielzahl aktueller Klimaschutzszenarien haben wir vier herausgegriffen:
- das Szenario »95-Prozent-Klimapfad« der Studie »Klimapfade für Deutschland« im Auftrag des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI),
- die beiden Szenarien »GreenEe 1« und »Green-
Supreme« der Studie »Wege in eine ressourcenschonende Treibhausgasneutralität« des Umweltbundesamtes (UBA) und - das Szenario »Klimaneutrales Deutschland 2045« (kurz: »KNDE 2045«) im Auftrag von Stiftung Klimaneutralität, Agora Energiewende und Agora Verkehrswende.
Das »95-Prozent-Klimapfad«-Szenario wurde unter Einbindung der deutschen Wirtschaftsverbände entwickelt und betont stark ökonomische Überlegungen. Die anderen Szenarien orientieren sich stärker an den Erfordernissen des Umwelt- und Klimaschutzes und zeigen eine weitergehende Treibhausgasminderung bis zur Neutralität auf. Das UBA-Szenario »GreenEe 1« fokussiert dabei auf eine hohe Energieeffizienz, starke Elektrifizierung und schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien. Das Szenario »KNDE 2045« stellt sogar schon ab 2045 die Klimaneutralität sicher. »Green-
Supreme« nimmt im Unterschied zu den anderen Szenarien nicht nur technische Maßnahmen und Innovationen in den Fokus. Vielmehr unterstellt dieses Szenario eine hohe Bereitschaft von jedem Einzelnen, zum Wandel beizutragen, und richtet das Wirtschaften mit einer hohen Zirkularität und Langlebigkeit von Gütern nicht allein am Wachstum aus.
Gemeinsamkeiten erkennen und umsetzen
Alle Szenarien zeigen die Grenzen der konventionellen Ansätze der Treibhausgasminderung. Diese adressieren vornehmlich die Vermeidung und Substitution von Treibhausgasemissionen in den Sektoren Energieerzeugung, Verkehr, Gebäude, Industrie, Landwirtschaft sowie Abfall- und Abwasserwirtschaft. Bis 2050 oder 2045 sind in Deutschland mit diesen Ansätzen, wenngleich sie auch höchst ambitionierte Maßnahmen und Änderungen der Lebensweise unterstellen, maximal Minderungen von 95 bis 97 Prozent gegenüber 1990 möglich. Das zeigt, dass Emissionen in Höhe von rund 40 bis 60 Millionen Tonnen Treibhausgase (berechnet als CO2-Äquivalente) in Deutschland als unvermeidbar gelten. Diese verbleibenden Treibhausgasemissionen der Landwirtschaft, der Industrie (Glas-, Kalk- oder Zementindustrie) und der Abwasserwirtschaft können nur durch eine Entnahme von Kohlenstoff aus der Atmosphäre mit langanhaltender, sicherer Bindung oder Einspeicherung ausgeglichen werden.
Eine weitgehende Elektrifizierung aller Sektoren ist ein Muss. Elektromobilität und Wärmepumpen sind dabei die Schlüsseltechniken.
Um Nullemissionen in den Sektoren Energie, Verkehr und Gebäude zu erreichen, ist in allen Szenarien eine defossilisierte Energieversorgung zwingend nötig – und damit der Ausbau der erneuerbaren Energien und der Ausstieg aus fossilen Energien. Je schneller, desto besser für unser Klima. Die Szenarien »GreenSupreme« und »KNDE 2045« sehen – wenn auch unter anderen Rahmenbedingungen – daher schon 2030 das Ende der Kohleverstromung vor. Gleichzeitig kommt kein Szenario ohne eine deutliche Steigerung der Energieeffizienz aus. Der Primärenergieverbrauch Deutschlands sinkt in allen Szenarien bis 2050 um rund 50 Prozent und mehr im Vergleich zu 2015 – in den Szenarien »KNDE 2045« und »GreenSupreme« sogar schon bis 2045. Diese Entwicklung hat drei Gründe: Energieeinsparungen durch Sanierung, Modernisierungen und Effizienzmanagement, der Umstieg auf direkte Nutzung erneuerbarer Energien sowie die effiziente Sektorkopplung.
Natürlich gibt es Unterschiede in der Einschätzung, wie stark der Energieverbrauch in den einzelnen Sektoren gesenkt werden kann. Beim Gebäudebestand müssten nach Vorstellungen der beiden UBA-Szenarien die energetischen Sanierungsraten von heute rund 1 Prozent pro Jahr auf 2,6 bis 2,8 Prozent pro Jahr im Mittel bis 2050 steigen. Die beiden anderen Szenarien sehen deutlich geringere Sanierungsraten von 1,6 bis 1,9 Prozent pro Jahr vor. Trotz dieser Unterschiede: Alle Szenarien sehen die Notwendigkeit, »Gebäude stärker und schneller energetisch [zu] sanieren«. Je schneller und weitergehender die Energieeinsparung gesteigert wird, desto weniger Treibhausgasemissionen entstehen. Klimaschutz braucht also Effizienz! Dieser zentrale Hebel ist daher strategisch prioritär und kann – richtig gestaltet – zum wirtschaftlichen Erfolgsmodell werden.
»Strom ist der zentrale Energieträger auf dem Weg hin zu einer klimaneutralen Gesellschaft«, schlussfolgert die Szenario-Studie »KNDE 2045«. Aber auch alle anderen Klimaschutzszenarien kommen zu diesem Ergebnis: Eine weitgehende Elektrifizierung aller Sektoren ist ein Muss. Da erneuerbarer Strom weder heute noch in Zukunft im Überfluss vorhanden ist, muss dieser, wann immer möglich, direkt genutzt werden – dies ist energieeffizienter, klimaschonender und kostengünstiger als Optionen der indirekten Stromnutzung durch andere Sektorkopplungstechniken. Elektromobilität und Wärmepumpen sind dabei die Schlüsseltechniken. Die verstärkte Nutzung von Strom führt zwangsläufig zu einem Anstieg des Stromverbrauchs in Deutschland. Der Nettostromverbrauch steigt bis 2050 oder 2045 in einen Bereich von 700 (»95-Prozent-Klimapfad«) bis 1.000 Terawattstunden (»KNDE 2045«) – zum Vergleich: Im Jahr 2019 lag die Nettostromerzeugung bei rund 580 Terawattstunden.
Allerdings gibt es Bereiche, die langfristig nicht oder nur schwer elektrifiziert werden können, wie der internationale Luft- und Seeverkehr oder bestimmte Industrieprozesse. Auch zur Stabilisierung der Stromversorgung durch Speicher und Rückverstromung werden erneuerbare Brenn- und Kraftstoffe gebraucht. Nicht zu vergessen der Ersatz fossiler Ausgangsstoffe in der chemischen Industrie: Die UBA-Szenarien und »KNDE 2045« setzen auf die grünen Polymere. Kein Szenario schafft eine Treibhausgasminderung von 95 Prozent oder mehr ohne diese erneuerbaren Kraft-, Brenn- und Rohstoffe. Hierzu werden aus erneuerbarem Strom beispielsweise Wasserstoff und Methan mittels Power-to-Gas (PtG) und Flüssigkraftstoffe mittels Power-to-Liquid (PtL) hergestellt. Der Umfang der Mengen im Jahr 2050 oder 2045 divergiert jedoch stark zwischen 370 Terawattstunden und 705 Terawattstunden.
Kein Szenario schafft eine Treibhausgasminderung von 95 Prozent oder mehr ohne erneuerbare Kraft-, Brenn- und Rohstoffe.
Für deren Produktion ist teilweise doppelt so viel Strom nötig. Für »GreenEe 1« werden beispielsweise zusätzlich 1.070 Terawattstunden erneuerbarer Strom gebraucht. Unabhängig vom konkreten Zahlenwert wird deutlich: PtG und PtL brauchen viel Strom – diese Produkte dürfen daher nicht verschwendet und nur dort eingesetzt werden, wo eine Elektrifizierung nicht möglich ist. In Deutschland können diese Stromkapazitäten schlicht nicht konkurrenzfähig aufgebaut werden. Daher ist – wie heute – der Import von Brenn-, Kraft- und Rohstoffen auch zukünftig nötig. Die Szenarien gehen von Importquoten von 62 (»GreenSupreme«) bis 92 Prozent (»95-Prozent-Klimapfad«) aus. Schon heute muss damit begonnen werden, hierfür außerhalb Deutschlands erste Anlagen aufzubauen, dabei muss aber in diesen Ländern die Umstellung der Stromerzeugung auf erneuerbare Energien Vorrang haben. Klimaschutz in Deutschland darf nicht zu weniger Klimaschutz in anderen Ländern führen.
Trotz des nationalen Fokus der Szenarienstudien werden spätestens hier auch die zukünftigen globalen Verflechtungen deutlich. Deutschland muss nicht nur im eigenen Land Klimaschutz leisten, sondern auch global einen angemessenen Beitrag durch Finanzierung und Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen. Der Ausstieg aus der Nutzung fossiler Energieträger und der Schutz und Ausbau der natürlichen Kohlenstoffsenken sollten dabei im Zentrum der internationalen Kooperationen stehen. Klimaschutz kann nur ein Erfolgsmodell werden, wenn sich alle Staaten am Klimaschutzabkommen von Paris und der »Agenda 2030« orientieren und – zumindest langfristig – treibhausgasneutral werden. Klimaschutz ist ohne internationale Kooperationen nicht möglich – da sind sich die Szenarien im Grundsatz einig.
Unterschiede analysieren und im Diskurs auflösen
Auch wenn Einigkeit darin besteht, dass einer Senkung der Treibhausgase in Richtung Nullemissionen bis Mitte dieses Jahrhunderts »aus heutiger Sicht keine grundsätzlichen Hürden gegenüberstehen«, wird die Realisierbarkeit unterschiedlich eingeschätzt. Das BDI-Szenario »95-Prozent-Klimapfad« kommt zur Einschätzung, dass die hierzu notwendigen Maßnahmen »an der Grenze absehbarer technischer Machbarkeit und heutiger gesellschaftlicher Akzeptanz« sind. Die Stiftung Klimaneutralität, Agora Energiewende und Agora Verkehrswende sehen demgegenüber den beschriebenen Pfad »KNDE 2045« zur Klimaneutralität »unter Wahrung von Wirtschaftlichkeit und gesellschaftlicher Akzeptanz« als realistisch an.
Unterschiede erklären sich teilweise über den Zeitpunkt, zu dem die Szenarien erstellt wurden. Beispielsweise erweitert sich fortlaufend der Kenntnisstand technischer Möglichkeiten zur Dekarbonisierung der Industrie. Auch über veränderte politische Rahmenbedingungen etwa hinsichtlich Treibhausgasneutralität lassen sich Unterschiede zwischen den Szenarien erklären. Es gibt aber auch inhaltliche Differenzen: zum Beispiel beim Umbau des Industriesektors, konkret beim Grad der Energieeffizienz, und beim Umfang innovativer, treibhausgasneutraler Produktionsprozesse. Während der BDI in seinem Szenario davon ausgeht, dass im Industriesektor kein umfassender Umbau des Anlagenbestandes möglich ist, sehen die aktuelleren Szenarien das anders. Das Szenario »KNDE 2045« und die UBA-Szenarien setzen auf Zirkularität sowie auf neue, innovative Industrieprozesse – zum Beispiel auf den Einsatz von grünem Wasserstoff bei der Primärstahlherstellung. Auch die aktuellen Ergebnisse der Langfristszenarien des Bundeswirtschaftsministeriums kommen zu diesem Schluss: In der Industrie ist »eine tiefgreifende Transformation in vielen Branchen und Wertschöpfungsketten notwendig«, um die Klimaschutzziele zu erreichen.
Da erneuerbarer Strom weder heute noch in Zukunft im Überfluss vorhanden ist, muss dieser, wann immer möglich, direkt genutzt werden.
Kontrovers wird die Rolle der Biomasse bei der Gestaltung der zukünftigen Energieversorgung betrachtet. Einigkeit besteht oft noch darin, Importe und damit die Verdrängungs- und Verlagerungseffekte sowie Landnutzungsänderungen im Ausland auszuschließen. Bei der Steigerung der Produktion heimischer Biomasse und deren Nutzung unterscheiden sich die Szenarien: einerseits in jene, die heimische Biomasse als erneuerbaren Energieträger maximal nutzen, und anderseits in jene, die Biomasse vorrangig nachhaltig in Kaskaden stofflich einsetzen und Synergien zu anderen Umweltherausforderungen heben. So steigt in den Szenarien »95-Prozent-Klimapfad« und »KNDE 2045« der energetische Einsatz von Biomasse von heute 300 Terawattstunden auf rund 350 Terawattstunden im Jahr 2050 beziehungsweise 2045, während in den beiden UBA-Szenarien die Biomassenutzung bis 2050 auf rund 60 Terawattstunden sinkt. Die energetische Nutzung von Anbaubiomasse wird ab dem Jahr 2030 ausgeschlossen und auch die Nutzung von Waldrestholz wird bis 2050 stark reduziert. Der Grund: Umwelt- und Naturschutz. Die nachhaltige Forstwirtschaft stärkt den Wald als natürliche Kohlenstoffsenke und leistet so zur Treibhausgasneutralität einen großen Beitrag. Gleichzeitig wird die Biodiversität gestärkt. Diese Gegenüberstellung zeigt: Nicht alles, was beim Klimaschutz denkbar ist, ist unter anderen Umweltgesichtspunkten sinnvoll.
Meist infolge der unterschiedlichen Sicht auf die Biomasse ergeben sich Unterschiede bei der Nutzung von carbon capture and storage (CCS). Der Grund: Wird Biomasse zur Energieversorgung eingesetzt, obwohl andere treibhausgasneutrale Lösungen zur Verfügung stehen, ist sie nur noch begrenzt als natürliche Senke zur Kompensation der unvermeidbaren Emissionen verfügbar. Das BDI-Szenario geht davon aus, dass sich schon ein 95-Prozent-Reduktionsziel am kostengünstigsten nur mit Anwendung von CCS-Technologie erreichen lässt. Würde CCS im »95-Prozent-Klimapfad«-Szenario nicht zum Einsatz kommen, würden die Treibhausgasemissionen Deutschlands 2050 bei rund 155 statt bei 62 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente liegen. Statt einer 95-prozentigen Reduktion ergäbe sich dann nur eine Minderung von 88 Prozent im Jahr 2050 – übrigens der Zielwert des Klimaschutzgesetzes für 2040.
Beim BDI-Szenario »95-Prozent-Klimapfad« war das politische Ziel der Treibhausgasneutralität allerdings noch nicht gesetzt – Negativemissionen für Netto-Nullemissionen spielen daher noch keine Rolle. Auch das Szenario »KNDE 2045« nutzt CCS. Allerdings würde das Szenario ohne CCS immer noch eine 94-prozentige Treibhausgasminderung im Vergleich zu 1990 erreichen. Vor allem wird für die Treibhausgasneutralität bis 2045 auf Biomasse-CCS (BECCS) und Direct-Air-Capture-CCS (DACCS) fokussiert. Die UBA-Szenarien verzichten dagegen ganz auf CCS, da mögliche Speicher in Deutschland nur sehr begrenzt sind und nicht sicher ist, ob Treibhausgase dauerhaft ohne Umweltwirkungen gespeichert werden können. Das UBA setzt auf andere Strategien, um maximalen Klimaschutz zu erreichen: Prozesse und Produkte so weit vermeiden und substituieren, dass nur noch nicht vermeidbare Emissionen übrigbleiben, sowie natürliche Senken erhalten und stärken, , , .
»Agenda 2030« – schneller, stärker und besser handeln
Der Vergleich der Szenarien zeigt: Sich darauf zu verständigen, wo wir beim Klimaschutz 2045 und 2050 sein müssen, ist noch relativ einfach möglich. Dissens besteht aber bei der Frage, wie schnell die Treibhausgasemissionen vor 2050, insbesondere bis 2030 reduziert werden können. Hier unterscheiden sich die Szenarien massiv: Während die Szenarien »95-Prozent-Klimapfad« und »GreenEe 1« ihre Emissionen bis 2030 gegenüber 1990 nur um 57 beziehungsweise 60 Prozent senken, erreichen die Szenarien »KNDE 2045« und »GreenSupreme« bereits Minderungen von 65 beziehungsweise 69 Prozent. Diese Szenarien erfüllen das neue 2030er-Ziel des gerade geänderten Klimaschutzgesetzes (2030: minus 65 Prozent) und kommen den europäischen Zielen und internationalen Verpflichtungen des Übereinkommens von Paris am nächsten.
Mit Blick in die einzelnen Sektoren offenbart sich, dass selbst die anspruchsvollen Szenarien »KNDE 2045« und »GreenSupreme« nicht alle Sektorziele des Klimaschutzgesetzes für das Jahr 2030 erreichen – nur bei der Energiewirtschaft ist eine klare Zielerreichung gegeben. Die anderen Sektoren verfehlen auf unterschiedliche Weise das Ziel. Die Verkehrs-, Wärme-, Industrie- und Landwirtschaftswende müssen also noch schneller erfolgen. Das neue Sektorziel für Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft (LULUCF) erreichen ausschließlich die UBA-Szenarien. Die laufende Dekade der 2020er-Jahre ist entscheidend für den Erfolg beim Klimaschutz. Der Klimaschutz muss bis 2030 schneller, höher, stärker werden – beim Ausbau der erneuerbaren Energien, bei der Steigerung der Energie- und Materialeffizienz, bei der Elektrifizierung, beim Umbau der Wirtschaft, beim Ausstieg aus fossilen Techniken und beim Schutz der natürlichen Senken.
Klimaschutz muss aber nicht nur schneller, höher und stärker werden, sondern auch anders. Das Szenario »GreenSupreme« hat die niedrigsten Treibhausgasemissionen im Zeitverlauf – aufgrund des unterstellten Wandels zu veränderten Lebensstilen mit beispielsweise starker Verkehrsvermeidung. So sinkt in diesem Szenario der Pkw-Bestand von heute 48 auf 29 Millionen im Jahr 2050, die Verkehrsleistung im motorisierten Individualverkehr reduziert sich um 20 Prozent und ein Drittel der Pkw-Fahrleistung wird von Car- und Ridesharing erbracht. Der Motorisierungsgrad in Großstädten sinkt von heute 450 auf zukünftig 150 Pkw pro 1.000 Einwohner. Einher geht dies mit einer Änderung des Wirtschaftswachstums: weg von Quantität und viel mehr hin zu einem qualitativen Wachstum. Weitreichender Klimaschutz braucht neue Lebensstile und nachhaltiges Wachstum – dieser Diskurs muss schnell beginnen.
Klimapolitik muss noch systemischer gedacht werden und die Klimaschutzszenarien müssen Wechselwirkungen mit anderen Politikfeldern berücksichtigen. Die Green-Szenarien betrachten schon Klima- und Ressourcenschutz zusammen. Ergebnis ist: Klimaschutz, wie der Ausstieg aus fossilen Energien, dient auch dem Ressourcenschutz. Gleichzeitig braucht Klimaschutz viele Rohstoffe für den Ausbau der erneuerbaren Energien oder die Elektromobilität. Dabei ist die Zirkularität von Materialien und Rohstoffen von Beginn an zu integrieren, um die Entnahme aus der Natur an sich und den Anstieg der Primärrohstoffnachfrage zu begrenzen. Dieses Beispiel verdeutlicht: Die Verknüpfung unterschiedlicher Umwelthandlungsfelder in wissenschaftlichen Analysen trägt dazu bei, frühzeitig Synergien oder Konflikte zu erkennen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Dieses Systemwissen zu den Wechselwirkungen zwischen Klimaschutz und zum Beispiel den Handlungsfeldern Rohstoffe, Flächen, Natur, Digitalisierung oder Soziales – sogenannte Wirkungen zweiter Ordnung – hilft, eine nachhaltige Transformation erfolgreich umzusetzen.
Nicht alles, was beim Klimaschutz denkbar ist, ist unter anderen Umweltgesichtspunkten sinnvoll.
Die vielen Übereinstimmungen der Szenarien zeigen die zentralen Hebel und machen deutlich, wo schnell gehandelt werden und dass vieles gleichzeitig passieren muss. Das bedeutet auch, dass es in den noch kontroversen Bereichen umgehend einen gesellschaftlichen und politischen Diskurs und Abwägungsprozess zu den Umwelt- und Klimafolgen sowie zu den wirtschaftlichen und sozialen Belangen geben muss. Der Vergleich der Klimaschutzszenarien macht aber klar: Treibhausgasneutralität ist machbar – nicht irgendwann, sondern jetzt!