Digitale Dekarbonisierung
Keine Technologie allein ist in der Lage, das Klimaproblem zu lösen. Aber wenn wir viele Technologien standortspezifisch so kombinieren, dass Klima, Bebauung, Industrie- und gesellschaftliche Bedürfnisse sowie Leistungsfähigkeit bestmöglich aufeinander abgestimmt sind, dann können wir die Energieeffizienz erhöhen, die Transformation des Energiesystems vorantreiben und eine flexible Energieversorgung schaffen. Mit der Dekarbonisierung wird die Energieinfrastruktur jedoch auch immer komplexer. Bereits heute erbringen nahezu zwei Millionen dezentrale Stromerzeugungseinheiten eine Leistung von gut 100 GW. Technologische Trends wie Elektromobilität, Wärmepumpen und Elektrolyseure steigern die Komplexität auf der Seite des Stromverbrauchs. Auch dafür brauchen wir Lösungen.
Moderne Geräte lassen sich per WLAN und Internet steuern. Bereits heute gibt es in Deutschland pro Kopf rund zehn Geräte mit Internetverbindung – Tendenz stark steigend. Nur wenn wir die sich hieraus ergebenden Flexibilisierungspotenziale nutzen, können unsere Verteilnetze zukünftig sicher betrieben werden, ohne dass überall und gleichzeitig die Straßen kostenintensiv aufgerissen und Leitungen verlegt werden müssen. Beispielsweise könnten die Nutzer von zwölf Millionen Elektrofahrzeugen mithilfe von intelligenten Steuerungen rund 6 GW Ladeleistung in Zeiten verschieben, in denen das Stromnetz nur schwach ausgelastet ist. Einen Beitrag in ähnlicher Größenordnung kann die Industrie mit Demand-Side-Management leisten. Wärmepumpen könnten bei intelligenter Steuerung bereits heute 12 GW zum Flexibilitätspotenzial beitragen. Die nationale Wasserstoffstrategie sieht die Installation von 5 GW Elektrolyseurleistung bis 2030 vor. Neben der Flexibilität bietet die Sektorkopplung auch höhere Energienutzungsgrade. Zudem verbessert sie die Redundanz und Diversität unserer Infrastruktur und damit die Resilienz gegenüber Naturereignissen und Preisschwankungen. Die Summe der Flexibilitäten ergibt jedoch bei Weitem nicht die bereits heute installierten 100 GW Wind- und Solarstrom. Zur Umsetzung der Novelle des Klimaschutzgesetzes müssen die Erneuerbaren bis 2030 auf 200 GW ausgebaut werden.
Wenn es gelingt, mit neuen Geschäftsmodellen die Flexibilität der Verbraucher anzureizen, können die bestehenden Leitungen auch die doppelte Energie transportieren.
Vieles von dem, was wir für die Energiewende brauchen, kennen wir heute noch gar nicht. Die Technologien und dadurch möglichen neuen Geschäftsmodelle werden in einem agilen Prozess mit Versuch und Irrtum entstehen. Es ist daher essenziell, dass die Politik Entscheidungen für innovationsfreundliche und anpassungsfähige Rahmenbedingungen trifft und nicht nur bereits bekannte Technologien fördert. Die Forschungsförderung leistet hierzu einen wichtigen Beitrag für den Industriestandort Deutschland. Für den Schritt in großskalige Praxistests ist jedoch noch politische Arbeit erforderlich. Der heutige regulatorische Rahmen zwingt die Netzbetreiber dazu, nur in diejenigen Technologien zu investieren, für die bereits heute die Kosteneffizienz kalkulierbar ist. Damit können Netzbetreiber heute praktisch nicht in innovative Technologien wie beispielsweise Sensorik, Kommunikationstechnik und Aktuatorik in Verteilnetzen investieren.
Die Komplexität der Dekarbonisierung ist mit digitalem Designwerkzeug beherrschbar
Unser Anspruch ist es, mit unserem industriellen Know-how die digitale und die reale Welt miteinander zu verbinden. So muss die Auslegung neuer Infrastruktursysteme und insbesondere der schrittweise Umbau unserer bestehenden Infrastruktur sämtliche technologischen Optionen und deren Wechselwirkungen berücksichtigen. Dazu entwickelt Siemens digitale Zwillinge für Gebäude, Standorte, Städte, Regionen und Länder. Sie bilden die Primärbedarfe an Strom, Wärme, Kühlung, Transport, Wasser und chemischen Energieformen in einem digitalen Bild ab. Darüber hinaus pflegen wir permanent eine Bibliothek mit den technischen, wirtschaftlichen und Umwelteigenschaften der heute und zukünftig verfügbaren Infrastrukturkomponenten. Diese ergänzen wir um unsere Einschätzung von Lernkurven. Von besonders innovativen Technologien beispielsweise in der Kühl- und Wärmetechnik oder Speichertechnologien machen wir uns in unseren Laboren ein eigenes Bild.
Wenn wir dabei die ausgetretenen Pfade verlassen wollen, müssen wir uns vorurteilsfrei den neuen technologischen Möglichkeiten stellen. Spätestens seit der Ausgliederung der Siemens Energy, die heute eine Minderheitsbeteiligung ist, glaubt man uns diese Technologieoffenheit auch außerhalb des Konzerns. Zur Ermittlung der bestmöglichen Kombination von Technologien setzen wir Verfahren des Operations Research und der künstlichen Intelligenz ein – sie optimieren nach rein mathematischen Gesichtspunkten.
Ihre Feuertaufe bestehen unsere digitalen Zwillinge, wenn ihre Prognosen mit den praktischen Erfahrungen verglichen werden.
Jedes Computerverfahren kann nur so gut sein wie die Eingangsdaten, mit denen es arbeitet. Daher sind Daten und darauf aufsetzende Prognoseverfahren ein wesentlicher Schlüssel zum Erfolg. Unsere Infrastruktursysteme sind leider immer noch nicht so effizient ausgelegt, wie es mit einer besseren Datenbasis möglich wäre. Dabei ist ein guter Teil der benötigten Daten verfügbar, allerdings gehören sie unterschiedlichsten Unternehmen und Behörden. Für die effektive Auslegung unserer Infrastruktur sind persönliche Daten einzelner Bürger nicht erforderlich. Eine Aggregation der Lastprofile von fünf Haushalten würde beispielsweise vollkommen ausreichen. Damit die Datensouveränität gewahrt bleibt, wird aktuell mit GAIA-X auf europäischer Ebene eine vielversprechende Basis geschaffen. Wir brauchen kollaborative Ansätze und seitens öffentlicher Stakeholder für Bereiche von öffentlichem Interesse einen Rahmen, der datenschutzkonform aggregierte Daten verfügbar macht.
Beim Design unserer Infrastruktur müssen wir auch deren gesamten Lebenszyklus berücksichtigen. Beispielsweise entstehen bereits bei der Einrichtung heutiger energieeffizienter Gebäude genauso viele CO2-Emissionen wie während 40 Jahren Betrieb durch Heizung und Beleuchtung. Sowohl bei der Planung von Neubauten als auch bei grundlegenden Sanierungen von Bestandsgebäuden sollte daher die Energieeffizienz auf Basis eines digitalen Zwillings nachgewiesen werden. Hierzu hat Siemens ein Informationssystem (Building Information Modeling, BIM) entwickelt, das Gebäude während des Designs, der Bauphase und schließlich des Betriebs begleitet.
Mit digitalen Zwillingen zur Dekarbonisierungs-Roadmap
Für die Entwicklung praxistauglicher Technologie ist es essenziell, neue technologische Lösungen auszuprobieren – im Feld und in der Wechselwirkung miteinander. Ihre Feuertaufe bestehen unsere digitalen Zwillinge, wenn ihre Prognosen mit den praktischen Erfahrungen verglichen werden. Siemens entwickelt daher seit mehreren Jahren gemeinsam mit Partnern klimafreundliche Stadtteile mit modernster Technologie, beispielsweise in der Seestadt Aspern (Wien) und in Siemensstadt2 (Berlin). Mit unserem City Performance Tool entwickeln wir zunächst einen digitalen Zwilling der heutigen Situation. Auf dieser Basis ermitteln wir dann unter Berücksichtigung von Verkehrssituation, Arbeitsplätzen und Luftqualität bestmögliche Pfade zur Dekarbonisierung.
Siemens hat sich bereits 2015 verpflichtet, bis 2030 klimaneutral zu werden. Seitdem arbeiten wir konsequent an der Dekarbonisierung unserer Standorte weltweit. Für Fertigungsstandorte und größere Gebäude haben wir dazu Green Digital Twins entwickelt. Mit einem standardisierten Rechenverfahren ermitteln sie innerhalb weniger Wochen für die spezifische Situation jedes Standortes eine maßgeschneiderte mehrjährige Dekarbonisierungsroadmap. Dabei wird auch die Einbindung in Stadt und Region berücksichtigt. Hier arbeiten Ingenieure mit der relevanten Bandbreite an Fachkompetenzen Hand in Hand mit IT-Experten zusammen.
Die Dekarbonisierung unserer Wirtschaft erfolgt nicht auf der grünen Wiese, sondern im laufenden Betrieb als Operation am offenen Herzen. Damit unsere Infrastruktur auch während des Umbaus zuverlässig und kosteneffizient bleibt, werden das Internet der Dinge (Internet of Things, IoT), sogenannte Edge-Devices, also Netzwerkkomponenten am Netzwerkrand, und Cloud-Computing zunehmend essenzielle Beiträge leisten. In Praxisprojekten mit bestehender Infrastruktur entdecken wir häufig haarsträubende Effizienzverluste im zweistelligen Prozentbereich, die sich durch Ferndiagnose und Fernwartung vermeiden ließen. Den größten Anteil am gesamten Endenergieverbrauch hat in Deutschland mit rund einem Drittel die Gebäudewärme – und davon sind 85 Prozent nach wie vor fossilen Ursprungs. Mit der Wärme müssen wir also effizient umgehen. Siemens hat mit »Navigator« eine App zur automatischen Überwachung und Steuerung von Gebäuden geschaffen, denn der größte Hebel zur nachhaltigen Effizienzsteigerung beim Betrieb von Gebäuden besteht im Einbau von intelligenter Gebäudeautomatisierung und im kontinuierlichen Monitoring der Energieeffizienz. Energieverschwendung muss identifiziert und beseitigt werden.
Für einen derart effizienten, automatisierten Betrieb der Gebäudetechnik müssen Wärme- oder Klimatechnik im Gebäude mit einem Steuerungsmechanismus auf einem Edge-Device vor Ort oder in der Cloud verbunden werden. Eigentlich könnte dies ganz einfach gehen, denn in modernen Gebäuden ist in der Regel WLAN verfügbar. In der Praxis haben wir aber eine Situation wie in den 80er-Jahren bei den Heimcomputern: Jeder Hersteller von intelligent steuerbaren Aggregaten verwendet für anspruchsvolle Anwendungen seinen eigenen Standard und schließt so den Wettbewerb faktisch aus. Wenn die Hersteller des Heimspeichers, der Photovoltaikanlage, der Wärmepumpe und der Ladestation fürs Elektroauto jeweils ihre eigenen Standards verwenden, vergeben wir die Chance der Interoperabilität dieser Aggregate. Die Zukunft aber gehört der Interoperabilität.
Für kommerzielle Gebäude gibt es die nötigen Standards bereits seit 20 Jahren. Ab November 2021 wird mit dem neuen Smart-Home-Standard »Matter« auch für Einfamilienhäuser die Basis für Interoperabilität geschaffen. Dann könnten sich die Aggregate bei der Installation automatisch mit dem System für das Gebäudeenergiemanagement verbinden. Dieses kann wiederum automatisch die Überwachung sowie klima- und kostenoptimale Steuerung übernehmen, Fehlfunktionen erkennen und beheben und die Aggregate so steuern, dass in Summe die Netzanschlussleistung nicht überschritten wird. Prototypen dieser Technologie setzt Siemens seit mehreren Jahren in öffentlichen Gebäuden, Appartementhäusern und auch Bürogebäuden erfolgreich ein. Diese Gebäudeleittechnik kann sogar den Strombedarf so steuern, dass das Gebäude die Netzbetreiber mit Regelenergie unterstützt.
Standards für die Überwachung und Steuerung der Energieaggregate erforderlich
Schon heute erleben die ersten Haushalte, dass ihre Netzanschlussleistung nicht für den Betrieb einer Ladestation ausreicht. Mit dem Verbot von Ölheizungen ab 2026 wird darüber hinaus der Strombedarf von Wärmepumpen zunehmen und das Problem noch verschärfen. Angesichts der Klimaerwärmung steigt zudem auch in Deutschland die Nachfrage nach Kühltechnik. Wir brauchen daher dringend einen einheitlichen Standard für die Überwachung und Steuerung von Energieaggregaten.
Dieser muss ein besonderes Augenmerk auf Cybersecurity legen. Während die Netzbetreiber seit jeher hochprofessionell an der Zuverlässigkeit ihrer Technik arbeiten, gibt es bei den mit dem Internet verbundenen Geräten hinter dem Zähler dringendes Verbesserungspotenzial. Beim erforderlichen Stakeholderdialog zum neuen Standard bleibt Siemens neutral, denn wir stellen keine Hersteller-Energieaggregate her. Je nach Größe des Gebäudes muss die Steuerungstechnik nicht auf einem Edge-Device vor Ort laufen. Unsere Pilotsysteme laufen ebenfalls in der Cloud. Und auch beim Cloud-Computing sind wir agnostisch, indem wir unsere Applikationen so aufbauen, dass sie in unterschiedlichen Clouds laufen können.
Neue Marktakteure und Geschäftsmodelle erschließen die dringend benötigte Flexibilität
Dekarbonisierung bedeutet Elektrifizierung von Wärme, Transport und Industrieprozessen. Da Wind und Sonne nicht immer verfügbar sind, muss zur Umsetzung der Novelle des Klimaschutzgesetzes bereits bis zum Jahr 2030 die installierte Stromerzeugungsleistung aus erneuerbaren Energien mehr als doppelt so groß sein wie unsere heutige Spitzenlast von 85 GW. In den seltenen Stunden, in denen weder genug Wind weht noch ausreichend Sonne scheint, füllen Gaskraftwerke die Versorgungslücke. Einen zunehmend wichtigen Beitrag zur Verringerung dieser Versorgungslücke kann Flexibilität auf der Verbrauchseite leisten. Die Verbraucher werden ihren Strombedarf an das Angebot an erneuerbarem Strom anpassen, wenn dazu die richtigen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Heute haben sie kaum Veranlassung dazu, und wenn wir nicht aufpassen, dann wirkt unser regulatorischer Rahmen sogar kontraproduktiv.
Verbraucher und Prosumer mit eigener Stromerzeugung können ihren Verbrauch oder ihre Rückspeisung nur in dem Rahmen zur Verfügung stellen, den ihre Netzanschlussleistung erlaubt. Nach heutigem Regelwerk müssen Netznutzer für ihre Netzanschlussleistung zahlen und werden daher ihre Flexibilität nutzen, um mit einer möglichst niedrigen Anschlussleistung auszukommen. Mit einer derart minimalen Anschlussleistung können sie aber naturgemäß auch nur einen minimalen Beitrag dazu leisten, die Schwankung der Erneuerbaren zu kompensieren. Bisher zeigen die Verbraucher ein zufälliges Verhalten – von wenigen medialen Großereignissen wie Fußballmeisterschaften abgesehen. Wenn moderne Prognoseverfahren aber mehr präzise Vorhersagen von Strompreisen und der CO2-Last im Strommix erlauben, werden die Gleichzeitigkeitseffekte zunehmen. Verbraucher, die ihren Bedarf am Strompreis ausrichten oder die den Ökoknopf am Ladegerät ihres Elektrofahrzeugs gedrückt haben, verhalten sich dann synchron. Ein ähnlicher Effekt tritt ein, wenn alle Autos der Stauumfahrungsempfehlung ihres Navigationssystems folgen und sich der Stau auf die Umgehungsstraße verlagert.
Für den Ausweg aus diesem Dschungel an vielschichtigen und teilweise konkurrierenden Zielen und Nebenbedingungen beim Betrieb unserer dekarbonisierten Infrastruktur bieten IoT, Edge-Devices, Apps und Cloud-Computing die notwendigen Werkzeuge. Jedoch nur in Verbindung mit wirtschaftlich tragfähigen Geschäftsmodellen werden sie auch tatsächlich genutzt. Wenn die regulatorischen Rahmenbedingungen stimmen, werden neue Investoren die Chancen nutzen und gemeinsam mit der bereits aktiven Start-up-Szene die dringend benötigte Innovationsdynamik bringen.
Neue Ökosysteme ermöglichen Paradigmenwechsel
Mit dem vom Bundeswirtschaftsministerium geförderten Forschungsprojekt »pebbles« demonstriert Siemens im Allgäu gemeinsam mit Projektpartnern einen Peer-to-Peer-Energiehandel auf Basis von Blockchains. Das Projekt zeigt in der Praxis, wie ein neues Ökosystem aus innovativen Geschäftsmodellen in einer Region funktioniert, die heute bereits in der Spitze mehr als achtmal so viel Strom aus erneuerbaren Energien produziert wie verbraucht. Hierzu haben wir die Gebäudemanagementsysteme um eine automatische Handelsfunktion erweitert. Gebäude und Unternehmen sind damit in der Lage, überschüssigen Strom vollautomatisch in der Region zu verkaufen, ihren Bedarf an günstige oder CO2-freie lokale Stromangebote anzupassen oder ihre nicht ausgelastete Speicherkapazität Dritten mit Gewinn anzubieten. Die Gebäudenutzer brauchen dazu lediglich initial ihre Präferenzen zum Herkunftsnachweis anzugeben, den Rest erledigt die App.
Auch dem Verteilnetzbetreiber erleichtert das System das Leben, denn es bedeutet einen Paradigmenwechsel. Während bisher Netzbetreiber ihre Aufgabe darin sehen, jegliche Netznutzung notfalls mit Gegenmaßnahmen zu kompensieren, verringert das neue System den Stresslevel erheblich. Anstatt erraten zu müssen, was die Netznutzer demnächst tun werden, genügt es, dass der Netzbetreiber einen neuen Matching-Algorithmus im Vorhinein über die ihm bestens bekannte technische Leistungsfähigkeit seiner Betriebsmittel informiert. Der Matching-Algorithmus sorgt dann für ein Zusammenführen sämtlicher Angebote unter Einhaltung der Betriebsgrenzen. Dieses neue Verfahren bietet gerade auch für Erneuerbare-Energien-Anlagen, deren EEG-Förderung ausgelaufen ist, eine neue Vermarktungsperspektive. In den kommenden Jahren ließe sich so in vielen Regionen Deutschlands der gesamte Strombedarf der Haushalte mit erneuerbarem Strom aus Wind- und Solaranlagen, deren Förderung ausgelaufen ist, decken. Damit werden zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Für die heute installierten gut 100 GW wird eine Vermarktungsperspektive nach Auslaufen der EEG-Förderung geschaffen, und für die Flexibilität der Verbraucher entsteht ein wirtschaftlicher Anreiz. Und beides käme ohne Steuergelder aus.
In einer jüngst erschienenen Studie beziffert das Energiewirtschaftliche Institut an der Universität zu Köln den wirtschaftlichen Nutzen allein durch die so verbesserte Bewirtschaftung der Netzengpässe in den Verteilnetzen auf 2,4 Milliarden Euro pro Jahr. Wie bei jedem Paradigmenwechsel sind zur wirtschaftlichen Tragfähigkeit eines solchen Modells einige Veränderungen des regulatorischen Rahmens erforderlich. Ein Beispiel dafür ist die heutige Beaufschlagung mit gut 50 Prozent Steuern und Abgaben, wann immer der Strom die Grundstücksgrenze passiert. Hierbei gibt es derzeit keine Saldierung. Auf die Mehrwertsteuer übertragen würde dies bedeuten, dass jede Wertschöpfungsstufe die vollen Steuern zahlen müsste, anstatt sie durchzureichen. Die oft als Gegenargument gegen automatische Handelsfunktionen angeführten Betrugsversuche durch taktische Gebote lassen sich in der Praxis mit einer Typabnahme durch Zertifizierungsdienstleister problemlos vermeiden.
Köpfchen statt Kupfer
Dass zum Anschluss neuer Wind- und Solarstandorte neue Leitungen gebaut werden müssen, ist unvermeidlich. Bestehende Leitungen können mit moderner Leit- und Regeltechnik und insbesondere dank der Verbreitung des Internet of Things zukünftig besser ausgenutzt werden. Wenn es gelingt, mit neuen Geschäftsmodellen die Flexibilität der Verbraucher anzureizen, können die bestehenden Leitungen auch die doppelte Energie transportieren. Hier gilt das Prinzip »Köpfchen statt Kupfer«. Als Technologiepartner wird Siemens in dieser Transformation viel lernen und die nächste Phase der Energiewende gemeinsam mit allen anderen Akteuren gestalten.
Agenda
- Die Ausrichtung der Energiepolitik sollte Raum für Innovationen geben und die Rahmenbedingungen für einen marktwirtschaftlichen Ausbau schaffen.
- Für den Austausch von Daten zwischen Betreibern und Nutzern von Infrastruktur muss ein Rahmen geschaffen werden, denn er ist Voraussetzung für Effizienz.
- Schlüssel für die zukünftige Systemsicherheit ist Innovation insbesondere an der Grid-Edge, das heißt bei der Wechselwirkung zwischen Prosumern und dem Verteilnetz. Die Flexibilität der Prosumer muss daher zukünftig in die Regulierung der Netze einbezogen werden.
- Wir brauchen dringend einen Standard für die Überwachung und Steuerung von Energieaggregaten wie Ladestationen, Wärmepumpen, Photovoltaikanlagen und Speichern in Gebäuden. Dieser muss besonderes Augenmerk auf Cybersecurity legen.
- Hemmnisse für die freie Teilnahme von Prosumern am lokalen Energiehandel müssen beseitigt werden.
- Zusätzlich hilft der Einsatz von Strom aus erneuerbaren Energien dabei, die Energiewende in den anderen Sektoren Wärme und Verkehr voranzubringen. Die Nutzung dieses sauberen Stroms hilft, denn Sektorkopplung reduziert den Einsatz fossiler Energie.
- Als Konsequenz aus den Erfahrungen der Coronapandemie ist die Verbesserung der Resilienz des Energiesystems eine wichtige Aufgabe. Hier sind neben der Systemstabilität und Cybersecurity auch die Energieflexibilität und die Reaktionsfähigkeit bei Systembeeinträchtigungen ein hervorgehobenes Handlungsfeld.