Führen statt Folgen – eine neue IT-Infrastruktur

Das Resümee des Gutachtens des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie »Öffentliche Infrastruktur in Deutschland: Probleme und Reformbedarf« könnte nicht klarer sein: »In Deutschland wird schon seit vielen Jahrzehnten deutlich zu wenig in die öffentliche Infrastruktur investiert.« Insbesondere in der digitalen Infrastruktur seien große Anstrengungen notwendig, um die Herausforderungen der digitalen Revolution zu meistern.

Die Bedeutung von Quantum-Computing liegt darin, einerseits wirtschaftliche Wettbewerbsvorteile zu generieren und andererseits signifikante gesellschaftliche Fragen zu lösen.

Dabei bedeutet Infrastruktur nicht nur Netzwerk­technik für Kommunikations- und Informationsübertragung, sondern umfasst auch jene Strukturen, Systeme und Technologien, die für die Realisierung neuer Geschäftsmodelle notwendig sind. Dazu zählen etwa Ökosysteme zum Auf- und Ausbau von künstlicher Intelligenz als zentralem Treiber der vierten industriellen Revolution. Auch die konsequente Einführung digitaler Identitäten für Personen, Organisationen und Objekte für leistungsfähige Bürgerdienste gehört dazu sowie ein umfassendes Internet of Things. Zudem müssen jene Infrastrukturkomponenten betrachtet werden, die in den kommenden Jahren disruptive Veränderungen hervorrufen werden: beispielsweise Quantum-Computing für leistungsfähige Simulationen auf der Basis von digitalen Zwillingen, die für die Echtzeitfähigkeit nicht nur 5G, sondern perspektivisch auch 6G benötigen.

Hier sollen die vier zentralen Ziele einer modernen und innovativen IT-Landschaft skizziert werden, die das Potenzial haben, Deutschland in den digitalen Technologien des 21. Jahrhunderts führend zu machen.

Ziel 1: Schnelle Netze

In der Studie »5G an jeder Milchkanne« beschreibt die Konrad-Adenauer-Stiftung präzise die außerordentliche Bedeutung schneller flächendeckender Mobilfunknetze. Die Ausrichtung an der prozentualen Versorgung von Haushalten ist kein geeignetes Kriterium mehr, worauf auch das SPD-Positionspapier zum »Gesamtkonzept Mobilfunk« hinweist. Das Potenzial echtzeitfähiger 5G / 6G-Kommunikationssysteme liegt in anywhere everytime, um etwa autonomes Fahren, hoch automatisierte Agrarwirtschaft, flächendeckende medizinische Betreuung und zuverlässige Warnsysteme für den Katastrophenschutz zu realisieren. Ein lückenloses 5G-Netz ist ein zentraler Standortfaktor jeder Industrienation, und sein Nachfolger 6G wird ab circa 2028 diese Entwicklung weiter verstärken. Der Ausbau von 5G hat daher maximale Priorität, und gleichzeitig sind die Vorbereitungen für 6G jetzt zu starten – in China und den USA hat die Forschung dazu bereits begonnen.

Für die Zukunft müssen sich dringend die Frequenz­vergabeverfahren ändern. Das aktuelle Höchstgebot-Versteigerungsmodell von Frequenzen führt zu Milliardeninvestitionen der Mobilfunkunternehmen nur für den Zuschlag von Lizenzen. Diese Investitionen fehlen dann für den Netzausbau und sind damit eine der Ursachen für den vergleichsweise langsamen Netzausbau in Deutschland. Einer Analyse der Telefónica von 2020 zufolge haben die deutschen Netzbetreiber in 20 Jahren – also ab der 3G / UMTS-Versteigerung – rund 65 Milliarden Euro in Lizenzen investiert. Das ist mehr, als im selben Zeitraum in den eigentlichen Netzausbau geflossen ist. Die Analyse kommt zu der Erkenntnis: »Hätte das gesamte Geld direkt in die Infrastruktur fließen können, könnte schon heute in jedem Winkel Deutschlands ein Hochgeschwindigkeitsnetz stehen.«

Alternativen liegen etwa in sogenannten Beauty-Contests oder Negativauktionen: Beim Beauty-Contest werden die Frequenzen selbst zwar verschenkt, die Zuteilung wird dabei jedoch an Ausbaupläne und künftige Services der Mobilfunkbetreiber gekoppelt. Bei einer Negativauktion unterbieten sich die Anbieter in Bezug auf eine staatliche Fördersumme, die notwendig ist, um eine konkrete Dienstleistung – etwa die Versorgung einer bestimmten Region – zu realisieren. Bei beiden Verfahren steht der rasche Infrastrukturausbau im Vordergrund, nicht die Maximierung staatlicher Einnahmen. Auch eine Komposition der traditionellen Versteigerung mit Negativauktionen kann ein mögliches Modell sein: Für Gebiete, in denen sich ein Ausbau wirtschaftlich lohnt, werden die Frequenzen weiterhin versteigert. Die Einnahmen werden ausschließlich dafür verwendet, die staatlichen Fördersummen der Negativauktionen zu finanzieren.

Beide Verfahren ermöglichen das »Umparken im Kopf«: Bisher gestalten vor allem die Telekommunikationsunternehmen den Mobilfunkausbau, der politische Einfluss beschränkt sich weitgehend auf die Bereitstellung von Fördermitteln in bestimmten, eher »inselartigen« Kontexten. Notwendig ist aber eine klare gesellschaftliche Perspektive auf die Thematik, wie sie für andere Infrastrukturbereiche wie etwa den Straßenbau selbstverständlich ist. Politik und Regierung müssen diese Perspektive dann konsequent mitgestalten und umsetzen. Mithilfe von Negativauktionen und Beauty-Contests lässt sich diese gesellschaftliche Vision realisieren.

Künstliche Intelligenz ist die zentrale Voraussetzung dafür, dass Deutschland seine Produktivität, Arbeitsleistung und soziale Versorgungsstruktur in der Zukunft halten kann.

China hat sehr interessante Erfolge erzielt: Durch die Gründung von »China Tower« gelang den drei führenden Telekommunikationsunternehmen eine komplette Ausbauplanung zur gemeinsamen Nutzung von Mobilfunkmasten (value creation through resource sharing), die heute zu den weltführenden zählt. Die massiven Eingriffe des chinesischen Staates in die Geschäftsmodelle der Unternehmen – etwa der erzwungene Verkauf der jeweils eigenen Masten an China Tower – sind definitiv kein Modell für Deutschland und Europa. Gleichwohl kann man von der grundsätzlichen Philosophie dieser Architektur lernen: Das Konzept einer gemeinsamen Ausbauplanung und die Maximierung der Mitnutzung als freiwillige Kooperation und Föderation können einen Betrag dazu leisten, die Mobilfunkversorgung in Deutschland insgesamt zu verbessern und einen schnellen 5G / 6G-Roll-out zu realisieren.

Im Mai 2021 hat Bayerns Wirtschaftsministerium eine Änderung des Telekommunikationsgesetzes angestoßen, um Raum für neue Frequenzvergabemodelle zu schaffen. Es ist entscheidend, dass die Bundesregierung diese Gesetzesänderung schnellstmöglich umsetzt und die neuen Verfahren auch praktiziert werden, bevor weitere Investitionssummen dem Netzausbau de facto »entzogen« werden.

Ziel 2: Strategische Agenda Quantum-Computing

Spätestens seit IBM 2019 seinen ersten Quantum-Computer auf der Hannover-Messe präsentierte, ist das Rennen um diese Technologie auch in Deutschland eröffnet. Am 15. Juni 2021 haben Fraunhofer und IBM mit IBM Quantum System One in Ehningen nahe Stuttgart den ersten Quantum-Computer in Deutschland in Betrieb genommen – mit 27 Qubits das aktuell leistungsstärkste System in Europa. Indem für Wissenschaft und Wirtschaft der Zugang zu ersten Quantenrechnern rasch realisiert wird, entsteht eine wichtige Voraussetzung für den frühzeitigen Kompetenzausbau dieser Zukunftstechnologie in Deutschland. Mit monatlichen Tickets sind auch temporäre, flexible Zugänge zu Experimenten und erste Bewertungen der Technologie möglich.

Der Grund für die extreme Popularität und Relevanz liegt vor allem in zwei Faktoren: Zum einen kommt das Mooresche Gesetz zunehmend an seine Grenzen. Konnte sich in den vergangenen Jahrzehnten die Rechnerleistung der Von-Neumann-Architekturen durch weitere Miniaturisierung alle 18 Monate verdoppeln, wird die Steigerung zwischen 2025 und 2030 immer weiter abflachen. Damit wird die Leistung etwa von Optimierungsverfahren oder Simulationsumgebungen de facto »eingefroren«. Zum anderen werden Quantum-Computer das high-performance computing (HPC) disruptiv verändern: Weil ihre Rechenmethodik auf grundlegend anderen physikalischen Prinzipen basiert, können sie perspektivisch Probleme und Aufgabentypen bewältigen, die mit klassischen Computern zeitnah nicht lösbar sind. Benötigt etwa eine Optimierung der gesamtdeutschen Mobilität ein Jahrzehnt an Rechnerzeit, ist sie unbrauchbar. Dieselbe Optimierung in Minuten oder sogar Sekunden würde aber völlig neue Planungs- und Steuerungsmodelle erlauben.

Europa braucht dringend eine eigene digitale Identität, die alle Facetten der Identität abdeckt – zunächst für Menschen, weiterführend aber auch für ­Institutionen und Dinge.

Dieses Beispiel macht auch deutlich, dass Quantum-Computing nicht ausschließlich der Wirtschaft dient – etwa zur Optimierung von Logistikprozessen, der computergestützten Materialentwicklung oder der Beschleunigung von Entwicklungszyklen von Produkten. Quantum-Computer können in vielen gesellschaftlich hochrelevanten Bereichen neue Wege aufzeigen, wie eben in einer nachhaltigen Mobilitätsoptimierung, der Entwicklung neuer medizinischer Therapien oder bei der Reduktion des CO2-Ausstoßes. Beispielsweise kann Quantum-Computing dabei helfen, chemische Stoffe zu entdecken, mit denen CO2 aus der Atmosphäre gebunden werden kann. Die Bedeutung von Quantum-Computing liegt also darin, einerseits wirtschaftliche Wettbewerbsvorteile zu generieren und andererseits signifikante gesellschaftliche Fragen zu lösen.

Die völlig andere Physik der Quantum-Computer bewirkt allerdings auch, dass das gesamte HPC-Gebiet in Teilen neu zu denken ist: Nicht nur die Hardware ändert sich radikal, es sind auch etwa neue Programmiersprachen, Entwicklungsumgebungen und Software-Stacks und Lösungen zur Portierung bestehender Codes notwendig. Ebenso muss Cybersecurity neu gedacht werden: Mit Quantenrechnern lassen sich die aktuellen Kryptografieverfahren viel leichter »knacken«. Ein klassischer Computer braucht Billionen von Jahren, um die weitverbreitete RSA-Verschlüsselung zu knacken – ein Quantencomputer könnte das perspektivisch in Minuten oder sogar Sekunden realisieren. Umgekehrt bietet Quantum-Computing völlig neue Sicherheitskonzepte, etwa durch die Generierung »echter« Zufallszahlen oder durch quantensichere Kommunikation auf der Basis von Quantenschlüsselverteilung.

Ökosysteme wie die Initiative »Quantencomputing« des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) sind entscheidend, um Quantum-Computing in Deutschland und in Europa voranzubringen, und zwar schnell. Derzeit kommen die großen Entwicklungen einmal mehr von US-Konzernen wie IBM, Google, Microsoft und Co. Auch die chinesische Regierung hat ehrgeizige Programme, Milliarden werden allein in das chinesische National Laboratory for Quantum Information Sci­ences investiert. Mit Erfolg: Jüngst konnten chinesische Teams mit einem 66-Qubit-Rechner den bisherigen Leader Google schlagen. Ihr Quantencomputer konnte in etwas mehr als einer Stunde eine Berechnung durchführen, für die klassische Computer mehr als acht Jahre brauchen würden. Im Verbund mit Europa braucht Deutschland jetzt eine klare und kraftvolle Agenda für das im IT-Bereich voraussichtlich wichtigste Zukunftsfeld des kommenden Jahrzehnts und eine massive Investition in dieses Gebiet.

Ziel 3: Weg frei für künstliche Intelligenz und autonome Systeme

Künstliche Intelligenz (KI) ist der zentrale Treiber der vierten industriellen Revolution. Durchbrüche sind in mindestens drei Dimensionen sichtbar: Erstens dringen künstliche Intelligenzen immer mehr in Alltagsbereiche ein, wie etwa beim »autonomen Fahren«, und sind nicht mehr auf »Laborumgebungen« oder »gated communities« wie eine Produktionsanlage beschränkt. Zweitens entsteht durch den gleichzeitigen Durchbruch bei den Mobilfunknetzen eine neue, vernetzte und verteilte Form von Intelligenz. Dabei tauschen sich technologische Systeme in Echtzeit aus und agieren wie eine einzige Entität, obwohl sie räumlich verteilt sind, wie etwa bei einer »Car2X-Communication«. Ein cyber-physical system kann aus heterogenen Komponenten bestehen, die sich im Extremfall über die gesamte Welt verteilen und synchron agieren. Und drittens hat KI längst die Schwelle zur Kreativität durchbrochen: Wir sehen nicht nur künstliche Intelligenzen, die Musikstücke komponieren oder Gedichte schreiben, sondern auch solche, die etwa über räumliches Vorstellungsvermögen verfügen oder Szenen des menschlichen Alltags sinnvoll fortschreiben können.

Für Deutschland und viele andere Industrienationen liegen die Chancen der KI nicht nur in der Optimierung von Produkten und Prozessen. Vielmehr ist KI die wichtigste Antwort auf den demografischen Wandel – und damit die zentrale Voraussetzung dafür, dass Deutschland seine Produktivität, Arbeitsleistung und soziale Versorgungsstruktur in der Zukunft halten kann. Betrachten wir exemplarisch den Verkehrssektor: Um die Klimaziele zu erreichen und eine nachhaltige Mobilität umzusetzen, sollen bis 2030 die Passagierzahlen auf der Schiene verdoppelt werden. Während sich Arbeitnehmer und Gewerkschaften nachvollziehbar Sorgen um den potenziellen Wegfall von Arbeitsplätzen durch KI und Automatisierung machen, mangelt es global aufgrund demografischer Veränderungen etwa an Rangierern, Zugbegleitern, Lokführern und Instandhaltern. Ohne eine radikale Automatisierung vieler Prozesse sind die Ziele nicht erreichbar. Ähnliche Situationen finden sich etwa in der Produktion, in der Logistik, im Pflegebereich und im stationären Handel.

Deutschland hat – insbesondere aufgrund seiner aus der aktuellen Exportstärke resultierenden Finanzstabilität und seines überaus kompetitiven Ausbildungssystems – hervorragende Chancen, in der vierten industriellen Revolution und damit in dem zentralen Feld der KI eine prominente Rolle zu spielen. Gleichzeitig wird erstens immer deutlicher, dass der Vorsprung insgesamt schwindet, und es kann zweitens nicht übersehen werden, dass die wesentlichen Innovationen und Firmenneugründungen im 4.0 / KI-Kontext bisher vorwiegend außerhalb Deutschlands stattgefunden haben.

Deutschland hat hervorragende Chancen, in der vierten industriellen Revolution und damit im zentralen Feld der KI eine prominente Rolle zu spielen.

Angesichts des rasanten Fortschrittes in der KI – künftig zusätzlich getrieben durch 5G / 6G und Quantum-Computing – brauchen wir Raum und Möglichkeiten für visionäre Köpfe und mutige Macherinnen und Macher, die die nächste Generation von KI-Anwendungen in allen Wirtschaftszweigen und mit gesamtgesellschaftlichem Impact entwickeln. Die Vision muss »bold« sein – und nicht weniger als ein Führungsanspruch in der KI-Technologie, um ihr Potenzial für die Prosperität Deutschlands und Europas zu nutzen. Eine entscheidende Bedeutung kommt dabei der Gründerszene in Deutschland zu, die sich in den vergangenen Jahren bereits erheblich entwickelt hat. Dennoch müssen noch mehr offene Ökosysteme entstehen, in denen Start-ups, Wirtschaft, Wissenschaft, öffentliche Hand und Kapitalgeber gemeinsam die großen Themen der KI mit »Flagship-Projekten« und »Made in Germany and Europe« anpacken, um in der zweiten Hälfte der 2020er-Jahre das Feld anzuführen.

Der wichtigste Punkt ist jedoch: Noch immer fehlen Kapitalstrukturen für die schnelle und finanziell umfangreiche Förderung exzellenter und disruptiver Ideen. Vergleicht man die Start-up-Szene etwa mit der in den USA, dann haben neue Gründer in Deutschland kaum Chancen auf »größere Tickets« – diese sind aber notwendig. Gründer müssen sich voll auf ihr eigentliches Produkt und einen möglichst schnellen Marktstart fokussieren können – statt von Investmentrunde zu Investmentrunde zu hecheln. Neue Finanzmodelle – eine Art »Einhorn-Strategie« – sind notwendig, um den deutschen und europäischen Start-ups neue Chancen auf schnelles Wachstum eröffnen.

Ziel 4: Digitale Identitäten für Menschen, Organisationen und Objekte

Beim Thema »digitale Identität« preschen Digitalkonzerne wie Facebook, Google und Co. vor: Bei vielen Onlineportalen Dritter ist inzwischen der Login über diese »Identitäten« möglich. Ähnliche Trends wie etwa WeChat kommen aus China. Die Funktionalitäten hinter diesen Identitäten werden zudem immer breiter, wie die Integration von Zahlfunktionen unter anderem bei Google Pay, Apple Pay oder Alipay sowie die Kopplung mit Health-Diensten zum Beispiel bei HUAWEI ID deutlich machen. Europäische und deutsche Initiativen – auch zu digitalen Identitäten wie netID oder Verimi – können derzeit nicht mithalten.

Aufgrund der sowohl im öffentlichen wie auch im privaten Sektor allgegenwärtigen Nachweispflichten wird die in Deutschland und Europa noch immer meist rein analoge Ausstellung von Nachweisen zu einem der größten Digitalisierungshemmnisse unserer Zeit. Das trifft »hoheitliche Bereiche« wie die Autozulassung oder Schulanmeldung ebenso wie die Identifikation im Alltag, etwa bei einer Bankkontoeröffnung oder dem Hotel-Check-in. Europa braucht dringend eine eigene digitale Identität, die alle Facetten der Identität abdeckt – zunächst für Menschen, weiterführend aber auch für Institutionen und Dinge.

Für die technische Umsetzung existieren verschiedene Konzepte, darunter die inzwischen weit ausgereifte und zunehmend in allen Teilen der Welt aufkommende self-sovereign identity (SSI). Diese Lösung erlaubt es, Identitätsattribute standardisiert, datensparsam und vor allem fälschungssicher bereitzustellen, auszutauschen und zu speichern. Sie fügt sich damit konsequent in die Strategie einer »europäischen digitalen Souveränität« ein. Richtig umgesetzt, liefert SSI die technische Grundlage zur nutzerfreundlichen Umsetzung europäischer Werte und der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). SSI kann zudem sowohl für personenbezogene Daten als auch für Identitäten von Dingen und Institutionen genutzt werden. Die Lösung bietet enormes Potenzial für die Wirtschaft.

Zwingend notwendig ist die Einführung digitaler Identitäten auch in einem ganz anderen, gesellschaftlich hochrelevanten Bereich: Algorithmen sind zunehmend in der Lage, sich als »echte Personen« auszugeben. Das ist nicht nur ein Problem bei Fake-Bewertungen im ­E-Commerce, sondern auch in sozialen Netzwerken, wo eine »Heerschar« künstlich generierter Bots, die kaum noch von realen Personen zu unterscheiden sind, die Stimmungen und Positionen etwa in der politischen Auseinandersetzung mehr und mehr beeinflusst. Auch können inzwischen aus einer Sequenz von Bildern Animationen und Movies generiert werden, bei denen den Akteuren Texte »in den Mund gelegt werden«. Keinesfalls sind interaktive KI-Klone immer bedrohlich, sondern als animierter Chatbot in einer Beratungssituation sogar außerordentlich nützlich – dennoch wüsste man gern, ob das Gegenüber eine reale Person oder eine künstlich generierte ist.

Konzepte wie SSI unterstützen nicht nur digitale, gesicherte Identitäten, sondern auch weiterführende Konzepte wie etwa authentische Pseudonyme und Identitätstreuhänderschaften. Die amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel hat im Winter 2020 das Konzept einer digitalen Identität für Deutschland öffentlich vorgestellt und es auch im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands (Juli bis Dezember 2020) in die Europäische Union eingebracht. Inzwischen sind erste Anwendungsfälle realisiert worden. Insbesondere hat auch der VDE Verband der Elektrotechnik Elektronik und Informationstechnik wichtige Impulse zu »Vertrauen im virtuellen Raum« und zur »Zertifizierung digitaler Identitäten« eingebracht.

Es ist entscheidend, die Vordenkerschaft Deutschlands mit hoher Geschwindigkeit fortzusetzen und auf europäischer Ebene breit zu verankern, denn digitale Identitäten der einzelnen Nationalstaaten Europas haben kaum eine Chance, eine wirklich breite Verwendung zu finden. Weitere Referenzimplementierungen und die Bereitstellung von Werkzeugen sind wichtig, um die niedrigschwellige Einführung etwa auf Bewertungsplattformen und in Onlinemedien zu erleichtern.

Digitale Infrastruktur jetzt ausbauen

Entlang vier zentraler und dennoch exemplarischer Themenfelder wurden hier bestehende Barrieren, aber auch Modelle ihrer Überwindung skizziert. Viele weitere IT-Infrastrukturfragen stellen sich, wie etwa »Datenplattformen«, europäische Cloud-Souveränität, der Ausbau des europäischen Navigationssatellitensystems Galileo, nationale und / oder europäische Chipproduktion oder die Gestaltung und Technologieführerschaft einer »Green IT«. Als Fazit ergibt sich: Deutschland und Europa haben die finanziellen Mittel, das Know-how und engagierte Menschen, um im IT-Bereich weltweit konkurrenzfähig zu sein. Die dazu benötigte Infrastruktur muss jedoch jetzt ausgebaut werden. Nur so kann Europa – mit seinen Werten –
im weltweiten Wettbewerb bestehen.

Prof. Dr. Sabina Jeschke, geb. 1968, ist Managerin, Gründerin und Wissenschaftlerin. Nach einer Karriere als Universitätsprofessorin in Informatik, Elektrotechnik und Maschinenbau sowie als Vorstandsmitglied der Deutschen Bahn AG verstärkt sie seit Juni 2021 Deloitte Deutschland als Scientific Senior Advisor und hält zudem verschiedene Aufsichtsratsmandate. Sie gründete das ­KI-Start-up Arctic Brains AB in Jämtland, Schweden, befasst sich intensiv mit dem Aufbau von Start-ups im Umfeld von Quantum-Computing, begleitet die Initiative »KI Park« in Berlin und hält Honorarprofessuren an der RWTH Aachen und der TU Berlin.