Transformation zur Nachhaltigkeit: Herausforderungen für die Wissenschaft

Die Klima- und Erdsystemkrise hat, ähnlich wie die Coronakrise, die Wissenschaft in den Mittelpunkt des öffentlichen Diskurses gerückt. Die Bündelung und Vertiefung problembezogener wissenschaftlicher Erkenntnisse und ihre Aufbereitung zu Handlungsoptionen, die in einer tiefgreifenden Umbruchsituation gesellschaftlich und politisch diskutiert und entschieden werden können, sind eine zentrale, aber immer noch unterschätzte gesellschaftliche Aufgabe der Wissenschaft. Dabei kann sie einen wichtigen Beitrag dazu leisten, den Wandel zu gestalten, ein neues Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur vorzudenken und die Entstehung neuer Ordnungen und institutioneller Systeme zu unterstützen.

Orientierungswissen

Die Klimakrise verdeutlicht die Notwendigkeit, sich der Herausforderung, Orientierungswissen zu schaffen, anzunehmen. Ohne Orientierungswissen verlieren sich gesellschaftliche Akteure in Komplexitätsfallen und verheddern sich in den durch institutionelle, machtpolitische und technologische Pfadabhängigkeiten geprägten Alltagsroutinen. Orientierungswissen trägt dazu bei, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, überkommene Leitbilder und Heuristiken infrage zu stellen sowie neue kognitive Landkarten einer sich wandelnden Gegenwart und einer sich abzeichnenden Zukunft zu zeichnen.

Der Beginn des 21. Jahrhunderts ist durch besonders ausgeprägten Wandel gekennzeichnet, der die Hypothese rechtfertigt, dass wir uns mitten in einem Umbruch zu einer neuen Phase der Menschheitsgeschichte befinden. Dabei verstärken sich drei Großdynamiken wechselseitig:

  1. Die Menschen sind zur stärksten Veränderungskraft im Erdsystem geworden und nun dazu in der Lage, einen gefährlichen Erdsystemwandel zu erzeugen, der die Lebensgrundlage menschlicher Zivilisation unterminieren könnte – wenn nicht massiv gegengesteuert wird.
  2. Seit der industriellen Revolution sind global vernetzte ökonomische, politische und technologische Interdependenzstrukturen entstanden, die dazu führen, dass zentrale Problemkonstellationen, nicht zuletzt die Klimakrise, nur durch ein hohes Maß an weltweiter Koordination und Kooperation gelöst werden können. Die offensichtlichen Grenzen nationaler Handlungsfähigkeiten koinzidieren mit weiterhin schwachen globalen Institutionen und erschweren wirksame Antworten. Die Suche nach Grundlagen einer globalen Kooperationskultur, die Stabilität, Sicherheit und Freiheit im Zeitalter einer global vernetzten Gesellschaft ermöglichen, ist längst nicht abgeschlossen.
  3. Digitale Transformation, künstliche Intelligenz und synthetische Biologie schaffen eine neue Technosphäre, die Wirtschaften und Gesellschaften ebenso umfassend verändern wird wie die Ökosysteme. »Human enhancement«, »künstliche Evolution«, immer dichtere Interaktionen und Verschmelzungen zwischen Menschen und technischen Systemen werden erforscht. Das sich verändernde Zusammenspiel zwischen menschlicher Zivilisation, Erdsystem und den technischen Infrastrukturen wird im 21. Jahrhundert den Übergang zu einer neuen Phase der Menschheitsgeschichte einleiten. Zivilisatorische Fortschritte und Durchbrüche, aber auch Regressionen und tiefe Krisen sind dabei denkbar.

Die Wissenschaft kann die einschneidenden Veränderungen der Gegenwart auf die Tagesordnungen von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft setzen – also Orientierung schaffen. Das ist eine große Leistung. Allerdings geht es in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts nicht nur darum, »Alltagsprobleme« wissenschaftlich zu unterstützen, also etwa Steuer- und Rentenreformen zu begleiten, CO₂-Bepreisungen einzuführen oder Verbrennungsmotoren durch Elektromobilität zu ersetzen. Die Wissenschaft beschreibt vielmehr eine Welt in tiefem und umfassendem Wandel, einen Zivilisationsschub. Kann sie dazu beitragen, diesen zu gestalten, auszurichten, Klimakrisen zu vermeiden, ein neues Gleichgewicht von menschlichen Gesellschaften und dem Erdsystem vorzudenken, die Entstehung neuer Ordnungen und institutioneller Systeme zu unterstützen? Nichts spricht jedenfalls dafür, dass uns die Eigendynamiken von Macht, Märkten und technologischen Innovationen heil durch das 21. Jahrhundert bringen könnten.

Systemwissen

Die rasant voranschreitende Zerstörung des Lebensraums von Wildtieren ist mittlerweile als eine wesentliche Ursache für den in den vergangenen Jahrzehnten beobachteten Anstieg von neuen, zwischen Tier und Mensch übertragenen Infektionskrankheiten ausgemacht. Immer deutlicher zeichnet sich ein direkter Zusammenhang zwischen Klima-, Biodiversitäts- und Gesundheitskrise ab. Neben dem beschriebenen Orientierungswissen benötigen wir daher auch ein Systemwissen über diese komplexen Zusammenhänge.

Die Wissenschaft muss ihre eigene Verfasstheit an die neuen, systemischen Herausforderungen des Anthropozäns anpassen.

Das Anthropozän zwingt uns, wissenschaftliche Forschung und politisches Handeln auf das jeweilige Verhalten der beteiligten komplexen Systeme und die ihnen zugrunde liegenden Wechselwirkungsprozesse auszurichten. Schrittweise Verbesserungen in der Umweltpolitik oder technische Fortschritte, erkauft mit wirtschaftlichen Anreizen allein, werden dabei nicht ausreichen, um der systemischen Natur und dem Ausmaß der Dynamik der Krise gerecht zu werden. Verbesserungen an einem Ende (zum Beispiel möglichst rasche Aufforstung zur Schaffung von Senken für den Klimaschutz) drohen sonst zu Verschärfungen der Krise an anderen Enden zu werden (zum Beispiel Monokulturen, die Biodiversität beschädigen). Um das Risiko eines systemischen Zusammenbruchs grundlegender ökologischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Systeme zu verringern, ist es daher von entscheidender Bedeutung, die dynamische Entwicklung des Zusammenhangs zwischen menschlichem Handeln und den Veränderungen des Erdsystems erstens besser zu verstehen und zweitens auch in Öffentlichkeit und Politik besser zu vermitteln.

Die Bilanz im Feld des Systemwissens ist gemischt. Das Zusammenspiel zwischen Ökosystemen, Ökonomien, Konsum- und Verhaltensmustern und gesellschaftlicher Entwicklung ist in den vergangenen fünf Dekaden in der multidisziplinären Nachhaltigkeitsforschung gut erforscht worden. Die Dynamiken globaler Interdependenzen und die Bedingungen von wirksamen Global-Governance-Strukturen sind ebenfalls umfassend untersucht, resultieren jedoch in einem beachtlichen Teil der Literatur in großer Kooperationsskepsis. Ganz am Anfang steht die Entwicklung einer Forschungscommunity, die die Verschränkungen der neuen Technosphären mit Wirtschaften und Gesellschaften sowie dem Erdsystem ins Zentrum ihrer Forschung stellt.

Selbst wenn wir uns nur auf die Klimakrise konzentrieren, spielt der gerade in der öffentlichen Diskussion oft nur schwer vermittelbare Systemcharakter des Umbruchs zur Nachhaltigkeit eine entscheidende Rolle. Soll das Klimaziel von maximal 2 °C Erwärmung nicht verfehlt werden, muss die gesamte Welt bis spätestens 2050 treibhausgasneutral wirtschaften. Die vollständige Umstellung auf Klimaneutralität muss dabei nicht nur innerhalb der nächsten 15 bis 30 Jahre bewältigt werden. Sie muss auch rasch ihre größten Effekte erzielen. Die Kohlendioxidanreicherung in Atmosphäre und Ozean ist kumulativ. Je länger wir auf den derzeitigen Emissionshöchstständen verharren, desto schneller ist das Restbudget verbraucht – von möglichen Rückkopplungseffekten ganz zu schweigen.

Das Systemwissen zu Übergängen zur Nachhaltigkeit schafft nicht nur Orientierung, sondern beschreibt mögliche, aber eben auch unmögliche Handlungskorridore in die Zukunft. Das vorhandene Systemwissen zu Pfaden zur Nachhaltigkeit steht dabei durchaus im Spannungsverhältnis zum Systemwissen zu einzelnen Subsystemen unserer Gesellschaften: Demokratien benötigen Zeit, um akzeptierte Lösungen und Kompromisse zu finden; Unternehmen können Geschäftsmodelle und industrielle Infrastrukturen nicht in Echtzeit umbauen; Individuen verharren oft in routinisierten, möglicherweise umweltschädlichen Verhaltensweisen; globale Machtasymmetrien erschweren weltweite Klimakooperationen. Handlungsorientierte Forschung zu Pfaden zur Nachhaltigkeit muss diese gesellschaftlichen Fallstricke der Transformation berücksichtigen.

Transformationswissen

Dies bringt eine weitere Wissensdimension, das Transformationswissen, ins Spiel. Dieses kann Antworten auf die Frage liefern, auf welchen Pfaden sich ein neues Energiesystem als Grundlage einer defossilisierten Weltwirtschaft etablieren lässt.

In den kommenden Jahrzehnten werden massive Investitionen in technische Infrastrukturen getätigt und damit einhergehende immense logistische Herausforderungen bewältigt werden müssen. Jenseits der durch Visionen des »Green New Deal« aufgeworfenen Fragen ist daher auch von einer neuen Epoche der Gestaltung koordinierter globaler Interventionen zu sprechen. Die gegenwärtige Energiewende bedarf mehr als jede ihrer Vorgängerinnen politisch gesetzter und global wirksamer Rahmenbedingungen, um erfolgreich zu sein. Sie ist durch und durch eine politische oder, wenn man so will, »kuratierte« Energiewende, die deshalb auch auf eine breite gesellschaftliche Unterstützung angewiesen sein wird, gerade weil sie nicht ohne disruptive Veränderungen zu haben ist.

Die Politik sollte sich von allen Formen des Mikromanagements verabschieden und stattdessen klare Leitplanken definieren sowie die vielfach durch nationale und europäische Regulationen verbauten Freiräume eröffnen, um dadurch exploratives Handeln auf der benötigten Skala zu ermöglichen.

Orientierungswissen, Systemwissen und Transformationswissen sind also untrennbar miteinander verbunden, denn ohne Orientierungswissen handelt die Gesellschaft ziellos, ohne Systemwissen ist sie blind, und ohne Transformationswissen ist sie der Tragödie der Langzeitziele ausgeliefert, also der Vermeidung unmittelbaren Handelns durch Verlegung ehrgeiziger Ziele in die Zukunft, wie wir es im Klimadiskurs bereits so oft erlebt haben. Alle genannten Wissensdimensionen betreffen jedenfalls nicht nur die akademische Sphäre, sondern zugleich die Schnittstellen zwischen wissenschaftlichem und gesellschaftlich geteiltem Wissen.

Transformation zur Nachhaltigkeit erfordert auch Transformation der Wissenschaft

Zunächst eine Bemerkung zu den Schnittstellen innerhalb der Wissenschaft selbst: Die Wissenschaft arbeitet noch immer in disziplinärer Spezialisierung, während die Integration des von ihr produzierten Wissens oft anderen gesellschaftlichen Instanzen überlassen wird. Immer öfter stößt dieser Mechanismus an seine Grenzen, etwa wenn es um das Verständnis des durch Menschen veränderten Techno-Erde-Systems geht. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir genuin neue Erkenntnisse benötigen, die sich nicht einfach aus dem laufenden Betrieb ergeben. Die Prozesse, die uns gegenwärtig ins Anthropozän katapultieren, beruhen auf einer Wechselwirkung zwischen der globalen menschlichen Gesellschaft, ihren technologischen Infrastrukturen und dem Erdsystem.

Diese Kopplungen zwischen dem Erdsystem und der von Menschen geschaffenen Technosphäre sind bisher noch kaum verstanden. Hier brauchen wir dringend wissenschaftliches Wissen, das dieser neuen systemischen Qualität Rechnung trägt und insbesondere naturwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Ansätze miteinander verbindet. Die Wissenschaft muss, mit anderen Worten, ihre eigene Verfasstheit an die neuen, systemischen Herausforderungen des Anthropozäns anpassen, denn nur so kann sie Entscheidungsträgern im gesellschaftlichen und politischen Diskurs adäquate Handlungsoptionen vorstellen, die die genannten systemischen Zusammenhänge berücksichtigen.

Grundlagen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels und die Rollen der Wissenschaft

Dabei sollte uns die Wissenschaft keine Imperative, sondern Handlungsoptionen anbieten, über die man streiten kann und muss, auch weil sie oft widersprüchlich sind, weil sie Prioritätensetzungen verlangen, aber vor allem, weil andere Elemente der Selbstreflexion von Gesellschaften hinzukommen. Dagegen ist es durchaus berechtigt, an die Wissenschaft die Forderung zu richten, ihre Einsichten so zuzuspitzen, dass daraus Handlungsoptionen abgeleitet werden können, was allerdings innerhalb der Wissenschaften keineswegs breit akzeptiert ist und wozu es möglicherweise ebenfalls einer Anpassung ihrer institutionellen Verfasstheit bedarf. Erst im Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft lässt sich das Orientierungswissen gewinnen, ohne das wir ziellos handeln.

Während die Wissenschaft möglichst realistische und systemisch durchdachte Handlungsoptionen bereitstellen sollte, bedarf es in Gesellschaft und Politik auch der Führungsstärke, über diese Optionen mutig und verbindlich zu entscheiden.

Doch die charakterisierten Transformationsprozesse zur Nachhaltigkeit verändern Tiefenstrukturen unserer Gesellschaften, die auch das Zusammenspiel von Wissensordnungen und gesellschaftlichem Wandel betreffen. Aus den Gesellschaftswissenschaften, aber auch der evolutionären Anthropologie wissen wir, welche Dimensionen der Gesellschaft »in Bewegung geraten« müssen, um grundlegenden Wandel institutioneller, wirtschaftlicher und politischer Strukturen zu bewirken. Vier »Tiefenschichten« unserer Gesellschaften stehen dabei im Zentrum. Keine ließe sich im engeren Sinne »steuern«, »verordnen« oder »implementieren«. Alle sind mit der Wissenschaft verbunden.

Im Folgenden möchten wir diese vier Veränderungsdimensionen skizzieren und am Beispiel der Klimakrise und ihrer Verarbeitung durch die Gesellschaft illustrieren. Dabei kommen wir zu einer optimistischen Interpretation der Transformationsprozesse. Die Menschheit steckt bereits mitten in der Transformation, die »Bedingungen der Möglichkeit« für eine gelingende Transformation entstehen vor unseren Augen – allerdings bleibt offen, ob Geschwindigkeit und Breitenwirksamkeit der Veränderungen ausreichen, um schwerere Klimakrisen noch zu vermeiden.

Vier Veränderungsdimensionen einer gelingenden Transformation

  1. Neues (System-) Wissen schafft die Grundlagen für gesellschaftlichen Wandel. Der industriellen Revolution gingen ab der Renaissance und der Erfindung des Buchdrucks Wissensrevolutionen voraus. Seit den 70er-Jahren hat die Nachhaltigkeitsforschung immer umfassenderes Wissen geschaffen, das sukzessive die Illusion der Unendlichkeit des Planeten, seiner Ressourcen und Senken zerstörte. Der Weltklimarat IPCC ist eine geniale kulturelle Innovation, um die Wissensbestände der Welt zur Klimaproblematik wieder und wieder zu synthetisieren. In diesem Prozess ist eine neue, immer stabilere, international akzeptierte Wissensordnung entstanden, gegen deren Solidität sich am Ende noch nicht einmal mächtige ökonomische und politische Akteure des fossilen Zeitalters durchsetzen konnten. Die 1,5-bis-2-Grad-Leitplanke des Pariser Abkommens impliziert einen vollständigen Umbau der Weltwirtschaft. Was für ein Siegeszug der Wissenschaft, der dennoch an der Dynamik der Klimakrise scheitern könnte, wenn der Weltwirtschaftsumbau nicht schnell genug vonstattengeht!
  2. Neue Leitbilder und Heuristiken initiieren Richtungsänderungen. Gesellschaftlicher Wandel wird durch den Austausch handlungsleitender Heuristiken, Leitbilder und Narrative begleitet. In der europäischen Nachkriegsära waren zum Beispiel der Wohlfahrtsstaat, das Wachstumsparadigma als Grundlage von Wohlstand, ein ökonomisches Grundverständnis, das Umweltkosten systematisch externalisierte, oder auch die europäischen Integrationsprozesse als Friedensprojekte solche Kohäsion erzeugenden Heuristiken gesellschaftlicher Entwicklung. In der Gegenwart gewinnt die Nachhaltigkeitsforschung und -perspektive an gesellschaftlicher Deutungshoheit: Defossilisierung, Klimaneutralität, Zirkularität werden zu neuen, dominanten Leitbildern, die zum Beispiel den »European Green Deal« der EU prägen. Die genannten kognitiven Heuristiken verbinden Orientierungs-, System- und Transformationswissen und können zu Richtungsänderungen in den Gesellschaften führen.
  3. Neue normative Konfigurationen und Ordnungen entstehen. In den Demokratisierungsschüben der Vergangenheit setzten sich Menschenrechte und Gewaltenteilungskonzepte durch. Nach dem Zweiten Weltkrieg gewannen Fragen der Verteilungsgerechtigkeit oder auch der Rechte von Minderheiten an Bedeutung. Im Übergang zur Nachhaltigkeit emergieren »moralische Revolutionen«, die zu neuen normativen Handlungskorridoren gesellschaftlicher Entwicklung führen können. Die Vereinten Nationen haben 2015 die 17 Nachhaltigkeitsziele als normativen Kompass verabschiedet und damit den wirtschaftsliberalen Washingtoner Konsensus der 80er- und 90er-Jahre abgelöst; die pazifischen Inselstaaten (AOSIS) fordern internationale Klimagerechtigkeit ein; die Fridays-for-Future-Bewegung macht auf die Rechte zukünftiger Generationen aufmerksam; der IPCC stellt nüchtern fest, dass die Menschheit im Anthropozän Verantwortung für die Erdsystemstabilität übernehmen müsse; das Bundesverfassungsgericht versteht Klimaschutz seit Kurzem als Bedingung für den Schutz der Grundrechte und für die Sicherung der Freiheitsrechte nächster Generationen.
  4. Akteure des Wandels gewinnen an Bedeutung. Die Zahl der wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Akteure, die sich an Nachhaltigkeitsperspektiven orientieren, steigt. Sie können unterstützt und gestärkt werden, durch die Politik, aber auch die Wissenschaft. Wir verfügen also über genügend Wissen, um daraus die Notwendigkeit und prinzipielle Machbarkeit der Energiewende folgern zu können, aber ihre Realisierung im Einzelnen ist letztlich ein großes Experiment planetaren Ausmaßes, das wir zudem sehr rasch und konsequent angehen müssen. Die Politik sollte sich deshalb von allen Formen des Mikromanagements verabschieden und stattdessen klare Leitplanken definieren sowie die vielfach durch nationale und europäische Regulationen verbauten Freiräume eröffnen, um dadurch exploratives Handeln auf der benötigten Skala zu ermöglichen. Das benötigte Transformationswissen lässt sich, mit anderen Worten, zum Teil erst im Transformationsprozess selbst gewinnen.

Die Politik spielt eine Schlüsselrolle

Vor dem Hintergrund dieser Veränderungen der Tiefenstrukturen in unseren Gesellschaften spielt die Politik eine zentrale Rolle. Die Transformation hin etwa zu einem nachhaltigen Energiesystem ist auf die Festlegung langfristig verbindlicher Leitplanken angewiesen. Denn das ist ja die andere Seite der Medaille: Während die Wissenschaft möglichst realistische und systemisch durchdachte Handlungsoptionen bereitstellen sollte, bedarf es in Gesellschaft und Politik auch der Führungsstärke, über diese Optionen mutig und verbindlich zu entscheiden, gerade auch dann, wenn sie langfristige Festlegungen einschließen und mit disruptiven Veränderungen verbunden sind. Gelingt das alles mit der notwendigen Geschwindigkeit?

Diese Frage können wir nicht beantworten, wollen aber dennoch mit einer optimistischen Beobachtung schließen. R. W. Fogel beobachtet, dass von der neolithischen Revolution an zunächst große Innovationen im Rhythmus von etwa 1.000 Jahren stattfanden. Seit der industriellen Revolution hat sich ein beschleunigter Innovationsrhythmus durchgesetzt: In Schritten von drei bis vier Dekaden entstehen Dampfmaschinen, Eisenbahnen, Autos, Telefone, die DNA wird entschlüsselt, künstliche Intelligenz entwickelt, internationale Organisationen, globale Wertschöpfungsketten und das weltweite Wissenschaftssystem entstehen. Die Menschheit lernt also schneller.

Doch lernt sie schnell genug, um die Krise des Erdsystem abzuwenden? Schwer zu sagen, denn die Kehrseite von Fogels Beobachtung ist, dass die »Great Acceleration« die Menschheit an die Grenzen des Erdsystems geführt hat. Wir müssen also die Geschwindigkeit des Wandels weiter erhöhen – aber die Richtung der Entwicklung radikal ändern.

Prof. Dr. Dirk Messner, geb. 1962, ist seit 2020 Präsident des Bundesumweltamtes. Er ist Politikwissenschaftler und Nachhaltigkeitsforscher, Direktor des Centre for Global Cooperation Research sowie Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Dirk Messner ist Autor und Herausgeber von mehr als 500 Publikationen, unter anderem von »Deutschlands Neue Verantwortung« und »Deutschland und die Welt 2030«.

Prof. Dr. Jürgen Renn, geb. 1956, ist Physiker und promovierter Mathematiker mit Gastprofessuren in Boston, Tel Aviv und Zürich. Seit 2005 ist er Mitglied der Leopoldina, seit 2006 Honorarprofessor für Wissenschaftsgeschichte an der FU Berlin.