Was jetzt zu tun ist
Um Klimaneutralität und Wohlstand in Deutschland und Europa zu erreichen, braucht es radikales Umdenken und wirkungsvolles Handeln in allen Sektoren: Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft und Gesellschaft. Dabei müssen technologischer Fortschritt und konsequente Umsetzung in den Bereichen Clean Tech und Digitalisierung Hand in Hand gehen. Halbherzige Klimapolitik und die zögerliche Nutzung digitaler Potenziale unterminieren Zukunftschancen und werden insbesondere künftige Generationen teuer zu stehen kommen. Nun sind politische Führung (siehe den Beitrag Lang / Lutz Meyer) und die Innovations- und Gestaltungskraft von Wirtschaft, Gesellschaft und Wissenschaft gefragt.
Bisher sind signifikante, wenn auch noch immer unzureichende Reduktionen der Treibhausgasemissionen nur im Energiesektor gelungen. In den 2020er-Jahren muss der Ausbau der erneuerbaren Energien daher um den Faktor zwei bis drei erhöht werden. Die Energiewende bildet die Grundlage für einen erfolgreichen Übergang zur Klimaneutralität. Gleichzeitig müssen Klimaneutralitätspfade in allen Industrien und Wirtschaftszweigen, im Mobilitätssystem, bei Gebäuden und in der Stadtentwicklung sowie in der Landwirtschaft rasch umgesetzt werden.
Erfolgsbedingung für die Transformation ist die Beschleunigung aller Prozesse von der Planung bis zur Umsetzung von privaten und vor allem öffentlichen Investitionen. Dafür gilt es, die Planungsverfahren zu straffen, das enorme und bisher ungenutzte Potenzial der Digitalisierung in allen Planungs- und Genehmigungsverfahren zu nutzen, Behörden mit mehr Fachkräften auszustatten (siehe unter anderem die Beiträge von Dirk Meyer und Stefan Schaible) und die Bürgerbeteiligung neu – und vor allem vorausschauend – zu strukturieren. Eine solche Beschleunigung ist nicht alles – aber ohne diese Beschleunigung ist alles nichts.
Eine weitere Grundvoraussetzung für den Erfolg der Transformation ist deren soziale Ausgestaltung. Klimaschutz und digitaler Wandel können soziale Inklusion und die Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger signifikant verbessern. Die Chancen für einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufbruch steigen, wenn diese Synergiepotenziale mobilisiert und kommuniziert werden.
Inspiriert und getragen von den Empfehlungen der Autorinnen und Autoren dieses Bandes haben wir für alle politisch Verantwortlichen und Multiplikatoren in diesem Land diejenigen Ziele und Maßnahmen zusammengefasst, die aus unserer Sicht für eine erfolgreiche Transformation entscheidend sind. Die daraus entstandene Deutschland-Agenda erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern umfasst vielmehr Meilensteine mit besonderer Dringlichkeit, die in den Beiträgen des Bandes um viele weitere Aspekte ergänzt werden.
1. Realwirtschaftlichen Rahmen auf Klimaschutz ausrichten
- Reform des Steuer-, Abgaben- und Umlagensystems inklusive Abschaffung der EEG-Umlage bis spätestens 2025, Senkung der Stromsteuer auf das europäische Minimum sowie steuerliche Förderung der Kreislaufwirtschaft (siehe unter anderem die Beiträge Grimm, Mastiaux und Stuchtey et al.)
- Einführung eines nationalen, planbar steigenden CO₂-Mindestpreises in den EU-ETS-Sektoren sowie Ambitionierung des nationalen Emissionshandels für Wärme und Verkehr (siehe unter anderem den Beitrag Löschel)
- Auf europäischer Ebene Anpassung des Europäischen Emissionshandelssystems (ETS) an die verschärften Klimaziele sowie Einführung eines Emissionshandels für Wärme und Verkehr (siehe den Beitrag Fischedick)
- Schrittweise Zusammenführung der europäischen Emissionshandelssysteme mit dem nationalen Emissionshandel zu einem sektorübergreifenden Emissionshandel in Europa (siehe unter anderem den Beitrag Pittel / Henning)
- Einführung von CO₂-Schattenpreisen für die öffentliche Beschaffung
- Beendigung von klimaschädlichen Subventionen und Investitionen in fossile Infrastruktur
2. Finanzierungsökosystem stärken
- Engere Verzahnung des realwirtschaftlichen Umfelds mit der Finanzwirtschaft, auch im Sinne eines besseren Informationsflusses über zukunftsträchtige Geschäftsmodelle (siehe den Beitrag Grimm)
- Stärkung der Transformationsfinanzierung über den Kapitalmarkt, Verbesserung des Zugangs zu privatem Risikokapital (siehe unter anderem den Beitrag Mauderer)
- Unterstützung der Anstrengungen der EU-Kommission für eine ambitionierte Nachhaltigkeitstaxonomie
- Impulse für den Kapitalmarkt durch den Ausbau einer kapitalmarktgedeckten betrieblichen und privaten Altersvorsorge
- Schaffung einer echten europäischen Kapitalmarktunion
3. Infrastruktur planen und ausbauen: Energie, Digitales, Verkehr
- Ausbau von glasfaserbasierten gigabitfähigen Netzen, auch in ländlichen Gebieten, bis 2025 sowie europaweite Abschaltung der 3G-Netze (UMTS) im Jahr 2022 (siehe die Beiträge Höttges und Jeschke)
- Verzahnte Planung von Strom-, Wärme-, Gas- und Wasserstoffinfrastrukturen (siehe den Beitrag Reiche)
- Beschleunigung des Stromnetzausbaus, schnellstmöglich Auf- und Ausbau einer Wasserstoff-Netzinfrastruktur (siehe unter anderem die Beiträge Grimm, Reiche und Purr / Schmied)
- Beschleunigter Aus- und Umbau der Wärmenetze (siehe den Beitrag Wielgoß)
- Verbindlicher Ausbau der Ladeinfrastruktur für Elektroautos in allen Mitgliedstaaten der EU, Aufbau einer europaweiten Lade- und Tankinfrastruktur für Wasserstoff- und E-Lkw (siehe unter anderem die Beiträge Appel und Lutz Meyer)
- Ausbau des öffentlichen Personenverkehrs sowie Berücksichtigung CO₂-freier Mobilitätsformen bei der kommunalen Verkehrs- und Stadtplanung (siehe unter anderem die Beiträge Kämpfer, Lüscher / Nikutta und Schellnhuber / Misselwitz)
- Unterstützung der Bauhaus-Europa-Initiative der EU-Kommission zu klimaneutralen und inklusiven Städten durch die Bundesregierung (siehe unter anderem den Beitrag Schellnhuber / Misselwitz)
4. Die Transformation fair gestalten
- Ausgleich der Belastungen durch die CO₂-Bepreisung durch die Reduktion von Abgaben und Umlagen, Abfederung von sozialen Härten, die dadurch nicht adressiert werden (siehe unter anderem die Beiträge Löschel und Boetius et al.)
- Schaffung von Handlungsalternativen, die es ermöglichen, der CO₂-Bepreisung auszuweichen (siehe unter anderem den Beitrag Stuchtey et al.)
- Effektive Kommunikation von Reformen, Benennung potenzieller Gewinner und Verlierer und Adressierung ihrer Anliegen, wo geboten (siehe unter anderem den Beitrag Vassiliadis)
- Transformation demokratisch legitimieren, sozial gestalten und Chancen aufzeigen (siehe die Beiträge Krüger und Kawlath)
5. Zielsystem und Korridore setzen
- Erhöhung der jährlichen Ausbauziele bei Windkraft und Photovoltaik (siehe die Beiträge Fischedick, Rohrig / Wagenknecht und Pittel / Henning)
- Schaffung eines wettbewerbsfähigen industriellen 5G-Ökosystems für alle 5G-Hersteller (siehe unter anderem die Beiträge Höttges und Polenz)
- Verdoppelung der Geschwindigkeit der energetischen Sanierung des Gebäudebestandes
- Schaffung der rechtlichen Grundlagen für umweltverträgliches carbon capture and storage (CCS) sowie für carbon capture and usage (CCU) (siehe den Beitrag Boetius et al.)
- Etablierung von Standards zur transparenten Berichterstattung über Produktidentität, Lieferketten und Materialströme (Herkunftsnachweise und Lebenszyklusanalysen) (siehe unter anderem die Beiträge Oberhuber / Rau, Stuchtey et al. und Steilemann)
- Umsetzung der Kernempfehlungen der Zukunftskommission Landwirtschaft (siehe den Beitrag Strohschneider)
6. Forschung fördern
- Ausbau des europäischen Forschungsraumes
- Verbesserung des Wissens- und Technologietransfers durch Innovationscluster und Reallabore zur Begleitung und Beschleunigung der Transformation (siehe den Beitrag Weissenberger-Eibl)
- Stärkung der gesamtgesellschaftlichen Transformationskompetenz durch Aufbau und intensivere Nutzung von interdisziplinärem Orientierungs-, System- und Transformationswissen (siehe den Beitrag Messner / Renn)
- Signifikante Steigerung von F&E-Investitionen in Deutschland und Europa zur Erforschung der Potenziale von künstlicher Intelligenz, Machine Learning und anderer digitaler Innovationen für Klimaneutralität
7. Internationale Kooperation stärken
- Koordination der weltweiten Klimapolitik in einem globalen »Klimaclub«, Einführung globaler CO₂-Preise gemeinsam mit wichtigen Handelspartnern oder alternativ internationale Koordination der Klimapolitik anhand gemeinsamer Reduktionsziele (siehe unter anderem die Beiträge Boetius et al. und Nakicenovic)
- Unterstützung wirksamer globaler Allianzen für den Ausstieg aus der Verbrennung fossiler Energieträger und zum Schutz der weltweiten Ökosysteme und von deren Senkenfunktionen
- Akzeptanz vielfältiger Transformationspfade in einer Übergangsperiode in der EU und global – Einigung auf das Zielbild einer grünen Wirtschaft und klimaneutralen Wirtschaft
- Etablierung gestaltungsstarker deutscher und europäischer Beauftragter für globale Klimaschutzpolitik im Rahmen einer aktiven Klimaaußenpolitik